05.05.2024 13:00:02 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Putins fünfte Amtszeit ?: Nicht nur der Krieg setzt dem Kremlchef zu

MOSKAU (dpa-AFX) ? Moskaus Sicherheitsapparat steht in diesen Maitagen zum
Schutz von Langzeitpräsident Wladimir Putin unter Strom. Der Kremlchef ist seit
fast einem Vierteljahrhundert an der Macht und plant am 7. Mai - nach der Wahl
im März mit einem umstrittenen Rekordergebnis von 87,28 Prozent - seine fünfte
Amtseinführung. Am Tag danach empfängt der 71-Jährige zum Jubiläumsgipfel seiner
vor 20 Jahren gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion ausländische Staatsgäste.
Der Ereignisreigen gipfelt dann am 9. Mai in einer großen Militärparade samt
einer Rede Putins, der seit mehr als zwei Jahren Krieg gegen die Ukraine führt.
Dabei schwingt überall die Frage mit, was nun kommt - und wie lange Putin noch
bleibt.

Immer wieder hat der russische Präsident erklärt, eine neue multipolare
Weltordnung anzustreben - weg von einer Vormachtstellung der USA. Und er
stilisiert seinen Krieg gegen die Ukraine nicht zuletzt zum Kampf gegen die Nato
und den Westen insgesamt hoch. Im dritten Jahr der Invasion strotzt sein
Machtapparat vor Selbstbewusstsein - auch weil die westlichen Sanktionen die
russische Kriegsmaschinerie bisher weder stoppen noch das Land wirtschaftlich in
die Knie zwingen konnten.

Kriegswirtschaft lässt die Konjunktur brummen

Die wirtschaftliche Basis sei solide, die Dynamik gut, sagte Putin erst Ende April. "Die industrielle Aktivität wächst." Die Rohstoffgroßmacht verkauft ihr
Öl und Gas seit dem Embargo im Westen vor allem nach Osten, nach China und
Indien. Auch dank der hochgefahrenen Kriegswirtschaft rechnet Russland mit um
die drei Prozent Wachstum in diesem Jahr. Für Loyalität in der Bevölkerung
sorgen zudem eine gute Beschäftigungslage und stabile Einkommen, wie Experten
betonen.

"Die Erfolge Russlands bei der Adaption an den Krieg haben tatsächlich die
Erwartungen übertroffen", sagt der Experte Maxim Samorukow von der US-Denkfabrik
Carnegie. "Putins System scheint heute unverwundbarer denn je zu sein." Der
aktuelle Vormarsch der russischen Truppen überstrahlt die anfänglichen
Niederlagen in dem Krieg. Auch westliche Militärexperten bescheinigen den Russen
taktische Erfolge an der Front.

Gleichwohl sind Friedensverhandlungen mit Russland nicht in Sicht. Zwar
betont Moskau fast täglich die Bereitschaft zu solchen Verhandlungen. Aber es
bleiben Zweifel, dass Putin es ernst meint. Zu erwarten ist vielmehr, dass die
Armee sich nicht nur die annektierten, aber bisher nur teilweise kontrollierten
Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja noch voll einverleiben wird.
Putin, der vom Weltstrafgericht in Den Haag wegen Kriegsverbrechen in der
Ukraine per Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben ist, könnte mindestens noch
Charkiw im Osten und Odessa im Süden erobern wollen, um der Ukraine am Schwarzen
Meer den letzten Zugang zu den Weltmeeren zu nehmen.

Stand jetzt ist nur klar, dass die Invasion Putins neue Amtszeit maßgeblich
prägen wird. Ein leichtes Durchregieren des Kremlchefs in den kommenden sechs
Jahren ist nicht zu erwarten. Probleme und Risiken gibt es en masse.

Machtkämpfe in Moskau

Putin wird nach der Amtseinführung auch eine neue Regierung ernennen, da die bestehende traditionell zunächst ihren Rücktritt einreicht. Gravierende
Änderungen sind zwar nicht zu erwarten. Sehr wohl aber wird der Kremlchef einmal
mehr die verschiedenen Interessengruppen austarieren müssen, um Machtkämpfen
entgegenzuwirken. Mitten im Krieg muss er etwa aktuell zuschauen, wie einer der
mächtigsten Militärs des Landes, Vize-Verteidigungsminister Timur Iwanow, wegen
Bestechlichkeit in Haft genommen wurde.

Viele Russen reiben sich die Augen, weil solche einflussreichen Vertreter
des Sicherheitsapparats mit Zugriff auf gewaltige Ressourcen in der Regel nicht
öffentlich an den Pranger gestellt werden. "Die Widersprüche im Inneren des
Systems wachsen und werden mit Gewalt ausgetragen", schreibt der Politologe
Andrei Perzew in einer Analyse für Carnegie. Er sieht, dass Putin anders als
früher kaum mehr als Schiedsrichter zwischen den verschiedenen Gruppen auftritt.
"Die einflussreichen Gruppen fallen sogar aktiver übereinander her als vor dem
Krieg", meint Perzew.

In Erinnerung ist vielen noch der Aufstand des Chefs der Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, vor einem Jahr. Prigoschin hatte der Militärführung um
Verteidigungsminister Sergej Schoigu massive Korruption und Versäumnisse
vorgeworfen. Der Putin-Vertraute gab letztlich klein bei - und starb im August
genau zwei Monate nach dem misslungenen Putsch bei einem bis heute nicht
aufgeklärten Flugzeugabsturz.

Nach dem Schrecken trat gefühlt Ruhe ein. Doch der Fall des nun inhaftierten Schoigu-Vertrauten Iwanow zeigt nach Meinung von Experten, dass es weiter
brodelt ? und auch andere Gruppen versuchen könnten, so den Einfluss des mit
Putin befreundeten Verteidigungsministers zu beschneiden. Andere könnten
versuchen, Macht an sich zu reißen.

Die Sicherheitslage bleibt angespannt

Die Sicherheitslage im Land ist damit alles andere als stabil. Noch frisch
ist nicht zuletzt das Entsetzen über den Terroranschlag auf die Konzerthalle
Crocus City Hall bei Moskau mit mehr als 100 Toten und Hunderten Verletzten. Der
Anti-Terror-Kampf ist nicht beendet.

Zudem sind Regionen an der Grenze zur Ukraine ? allen voran Belgorod ?
zunehmend Beschuss und Angriffen von ukrainischer Seite ausgesetzt. Die Toten,
Verletzten und massiven Zerstörungen versetzen russische Behörden in Zugzwang.
Immer wieder gibt es Vorwürfe, dass Putin seine Sicherheitsversprechen nicht
einhalten konnte.

Kiew beruft sich auf sein Recht auf Verteidigung, indem es etwa
Treibstoffdepots und Militärstützpunkte auf russischer Seite zerstört. Die
Folgen solcher Attacken stehen aber in keinem Verhältnis zu den massiven
Zerstörungen und vielen Opfern auf ukrainischer Seite.

Experte hält Putins System für nicht stabil

Noch gerät dadurch das System Putin selbst nicht ins Wanken. Alles scheint
unter Kontrolle. "Aber jeden Moment kann alles aus den Fugen geraten", meint der
Politologe Samorukow. Die Gefahr gehe nicht von Putins Gegnern aus, die
Opposition ist zersplittert und nach dem Tod des Putin-Gegners Alexej Nawalny
zusätzlich geschwächt, sondern vom inneren Kern des Systems selbst, von Putin
also, weil alles nur auf seine Person als Träger aller Entscheidungen
ausgerichtet ist.

Putin lebe schon "seit vielen Jahren in einem engen Kreis unterwürfiger
Höflinge, die seine Vorurteile, Ressentiments und Wahnvorstellungen nur
füttern", sagt Samorukow. Falsche Entscheidungen könnten da irgendwann
selbstmörderisch werden ? und zum Zusammenbruch des Systems führen, meint der
Experte.

Der Kreml weist zwar stets zurück, dass Putin in einer Scheinwelt lebe, von
Untergebenen einseitig informiert werde und den Kontakt zur Realität verloren
habe oder auch seine Gesundheit angeschlagen sei. Doch erwarten Experten, dass
der Kremlchef nach einem zunehmend autoritären Kurs der vergangenen Jahre die
politischen Repressionen eher noch verschärfen dürfte für den Machterhalt.

Dazu passt das Bild einer Festung, das Moskau als Machtzentrum in diesen
Maitagen abgibt. Bei den drei anberaumten Großereignissen will Putin nun auch
zeigen, dass er international nicht isoliert ist - und mit ihm auf der Weltbühne
wohl noch lange zu rechnen ist.

Schon jetzt hat er die meisten russischen Herrscher beim Verbleib an der
Macht hinter sich gelassen. Im August wird er 25 Jahre an der Macht sein -
zeitweise als Regierungschef und meist als Präsident. Bald schon hat er auch
Sowjetdiktator Josef Stalin eingeholt. Und wenn er 2030 wieder antritt zur Wahl
und noch einmal gewählt werden könnte, könnte er am Ende sogar länger regieren
als Katharina die Große, die 34 Jahre lang die Zügel der Macht in der Hand
hatte./mau/DP/mis

--- Von Ulf Mauder, dpa ---

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