29.04.2024 14:09:40 - dpa-AFX: ROUNDUP: Geringere Verdienstunterschiede trotz schwindender Tarifbindung

DÜSSELDORF/FRANKFURT (dpa-AFX) - Fest geregelte Arbeitszeiten, einheitliche
Bezahlung und verbindliche Zusatzleistungen - in Deutschland können immer
weniger Arbeitnehmer die Vorteile eines Tarifvertrags für sich in Anspruch
nehmen. Nach einer am Montag vorgestellten Studie der gewerkschaftlichen
Hans-Böckler-Stiftung führt das zu erheblichen Nachteilen für die Beschäftigten
in tariflosen Betrieben: Sie müssten im Mittel 53 Minuten in der Woche länger
arbeiten und erhielten dennoch zehn Prozent weniger Gehalt als
Tarifbeschäftigte. Das entspreche über das Jahr gesehen einer zusätzlichen
Arbeitswoche, während auf dem Konto mehr als ein Monatsgehalt fehle.

Auf der anderen Seite hat der zuletzt stark erhöhte gesetzliche Mindestlohn
die Verdienstunterschiede in Deutschland abgemildert. Vor allem Geringverdiener
profitierten von der Steigerung auf 12 Euro in der Stunde, wie das Statistische
Bundesamt am Montag für den Zeitraum von April 2022 bis April 2023 berichtete.
Am Ende dieser Periode verdienten die oberen zehn Prozent der Beschäftigten im
Schnitt das 2,98-fache der Geringverdiener aus dem untersten Zehntel der
Lohnskala. Ein Jahr zuvor war es noch das 3,28-fache gewesen. Nach einer
weiteren Anhebung zum Jahresbeginn beträgt der Mindestlohn derzeit 12,41 Euro.

Stärkerer Zuwachs am unteren Ende der Lohnskala

Mit einem Bruttostundenlohn von 12,25 Euro zählte man im April 2023 gerade
noch zu den Geringverdienern, während Besserverdienende mindestens auf 36,48
Euro in der Stunde auf dem Zettel hatten. Die Entwicklung konnte
unterschiedlicher kaum sein: Im beobachteten Zeitraum gab es am oberen Ende der
Skala einen Zuwachs von 1,9 Prozent, während die Gehälter am Sockel um 12,4
Prozent zulegten.

Die Lohnungleichheit sei bis Anfang der 2010er Jahre zu groß geworden
- mit negativen Folgen für Produktivität und Beschäftigung, sagt
Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (IAB) bei der Arbeitsagentur. Nun müsse aber darauf geachtet
werden, dass keine falschen Job-Anreize gesetzt würden. Im vergangenen Jahr sei
der Anteil der Ungelernten unter den 20- bis 34-Jährigen erneut gestiegen, um
knapp 100 000 Personen auf nun über 18 Prozent. Gerade in Zeiten der
Transformation müsse deshalb noch mehr für Ausbildung und Qualifizierung getan
werden.

Nur noch jeder Zweite arbeitet nach Tarif

Tarifverträge werden zwar zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern oberhalb
des Mindestlohn-Niveaus ausgehandelt, aber der schleichende Rückgang der
Tarifbindung habe sich auch 2023 Jahr fortgesetzt, berichtet das Wirtschafts-
und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Böckler-Stiftung. Nur noch 49
Prozent der Beschäftigten seien 2023 in tarifgebundenen Betrieben tätig gewesen,
nachdem der Anteil im Jahr 2000 noch 68 Prozent betragen habe. Aktuell gibt es
eine breite regionale Spanne zwischen 54 Prozent Tarifbindung in
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz oder Mecklenburg-Vorpommern, wo nur rund
40 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt werden.

Grundlage der Untersuchung ist das Betriebspanel des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Arbeitsagentur, für das jährlich
rund 15 000 Betriebe detailliert befragt werden. Von den Betrieben ist
bundesweit nicht einmal mehr jeder vierte (24 Prozent) noch an einen
Tarifvertrag gebunden. Nicht berücksichtigt sind dabei Unternehmen, die sich
ohne formelle Verpflichtung an Branchentarifverträgen orientieren.

Tariflose im Osten verdienen besonders wenig

In Ostdeutschland sparen tariflose Unternehmen besonders deutlich an den
Gehältern ihrer Beschäftigten. Der Studie zufolge liegen etwa in Brandenburg die
tariflosen Löhne rund 15 Prozent unter denen in tarifgebundenen Unternehmen.
Deutliche Unterschiede bei der Arbeitszeit sind hingegen eher im Westen üblich.
Die größte Differenz beobachteten die Wissenschaftler in Baden-Württemberg, wo
tariflose Vollzeitbeschäftigte 83 Minuten länger arbeiten mussten als ihre
tarifgebundenen Kollegen.

Die WSI-Autoren Malte Lübker und Thorsten Schulten fordern wirksame
Maßnahmen der Bundesregierung, um die Tarifbindung auf die von der EU
geforderten 80 Prozent zu steigern. Unter anderem sollten ihrer Meinung nach
öffentliche Aufträge nur an tariftreue Unternehmen vergeben und Tarifabschlüsse
leichter für ganze Branchen als allgemein verbindlich erklärt werden.

IAB-Experte Weber schlägt vor, Vorteile wie flexiblere Arbeitszeiten an
tarifliche Regelungen zu binden, warnt aber auch vor zu viel staatlichem Zwang.
"Ein Tarifvertrag sollte möglichst aus sich selbst heraus Vorteil genug sein."
Die Bedingungen für eine höhere Tarifbindung seien angesichts knapper
Arbeitskräfte nicht schlecht, wenn auch die Unternehmen erkennen müssten, dass
sie nur zu guten Beschäftigungsbedingungen Mitarbeiter finden. Eine Chance für
die Tarifpartner läge darin, innerhalb ihrer Vertragswerke den Individuen mehr
Selbstbestimmung und Wahlrechte etwa zur Arbeitszeitgestaltung zu
ermöglichen./ceb/DP/mis

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