28.04.2024 14:29:57 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Angst in Rafah vor Bodenoffensive: 'Fliehen, um dem Tod zu entgehen'

GAZA (dpa-AFX) - Ahmed Masud weiß nicht mehr, wohin er fliehen soll. Derzeit
kampiert der junge Mann eigenen Angaben nach mit Verwandten in einem großen Zelt
in Rafah im Süden des Gazastreifens. Der 28-Jährige stammt eigentlich aus der
Stadt Gaza, die im Norden des umkämpften Gebiets liegt. Von dort flüchtete er
vor den Kämpfen zwischen Israels Armee und der Hamas in den Süden des
Küstenstreifens. Sollte Israel nun seine Ankündigung wahr machen und eine
großangelegte Offensive in Rafah beginnen, gibt es Masud zufolge keinen sicheren
Ort mehr für ihn und seine Angehörigen. "Wir kommen mit den schwierigen
Bedingungen, unter denen wir derzeit leben, schon kaum zurecht", sagt der
Palästinenser der Deutschen Presse-Agentur.

Israel hält den Militäreinsatz in der Stadt nahe der Grenze zu Ägypten für
unumgänglich. Das Land will dort die noch verbliebenen Bataillone der Hamas
zerschlagen und so sicherstellen, dass die Terrororganisation nach Kriegsende
nicht wiedererstarkt. Der Einsatz könnte israelischen Medien zufolge rund sechs
Wochen dauern. Israel vermutet in Rafah außerdem die noch im Gazastreifen
verbliebenen Geiseln, die Terroristen der Hamas und anderer extremistischer
Organisationen am 7. Oktober bei ihrem brutalen Großangriff mit mehr als 1200
Toten aus Israel verschleppt haben.

Menschen haben Angst, weitere Familienmitglieder zu verlieren

Es wird erwartet, dass der Militäreinsatz mit einer mehrwöchigen Evakuierung der Zivilbevölkerung beginnt. Berichten zufolge will Israel die Menschen in
Zeltlager bringen, etwa in das Al-Mawasi-Lager am Mittelmeer. Es gibt allerdings
Zweifel, dass dort genug Platz ist.

Berichten zufolge errichten internationale Organisationen derzeit Zeltlager
für die Vertriebenen. Das Zentrum des Gazastreifens sei bereits überfüllt,
berichtet der 28-jährige Masud. Er und seine Familie bleiben deshalb vorerst
weiter in Rafah. Angesichts der israelischen Luftangriffe auf die Stadt, die es
dort bereits jetzt vereinzelt gibt, lebten sie aber in ständiger Angst. Der
Palästinenser kritisiert, dass es keinen richtigen Plan für die Evakuierung der
Menschen aus der Stadt gebe. Viele haben im Falle einer Offensive in Rafah am
meisten Angst davor, weitere Familienmitglieder zu verlieren, berichten Menschen
vor Ort der dpa.

Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen seit
Kriegsbeginn mehr als 34 450 Menschen ums Leben. Mehr als 77 500 Menschen seien
verletzt worden. Die Behörde unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und
Bewaffneten. Ihre Angaben lassen sich nicht unabhängig verifizieren.

Bericht: Zehntausende haben Rafah bereits verlassen

Der Palästinenser Mohammed al-Abadla hat sich wegen des geplanten
Militäreinsatzes der israelischen Armee dazu entschieden, Rafah in den kommenden
Tagen zu verlassen. Er wolle zu seinem zerstörten Haus in Chan Junis
zurückkehren und dort sein Zelt aufgeschlagen, erzählt der 48-Jährige der dpa.
"Ich kann das Risiko nicht eingehen und in Rafah bleiben und meine Kinder der
Gefahr auszusetzen", sagt der siebenfache Vater. "Wir sind nur Zivilisten, die
nichts mit dem Krieg zu tun haben, aber wir sind ständig dabei, von Ort zu Ort
zu fliehen, um dem Tod zu entgehen."

Al-Abadla hat Chan Junis eigenen Angaben nach bereits vor einigen Tagen
besucht, um nach dem Abzug der israelischen Armee dort nach seinem Haus zu
schauen. Nach den Kämpfen in der Stadt seien aber nur noch Ruinen seines
früheren Zuhauses übrig. Israels Armee hatte sich vor rund drei Wochen aus Chan
Junis, der größten Stadt im Süden des Gazastreifens, zurückgezogen. Seitdem
haben 150 000 bis 200 000 palästinensische Zivilisten Rafah verlassen und seien
etwa nach Chan Junis gegangen, berichtete die "Jerusalem Post".

UN: Einsatz wird humanitäre Katastrophe weiter verschlimmern

Israels Verbündete warnen seit Monaten vor einem großen Einsatz in Rafah,
weil sich dort Hunderttausende palästinensische Binnenflüchtlinge drängen.
Zeitweilig hielten sich in Rafah rund 1,5 Millionen der mehr als 2,2 Millionen
Bewohner des gesamten Gazastreifens auf. Mehr als eine Million hatte in der
Stadt im Süden des Küstengebiets nach Angaben von Hilfsorganisationen im Zuge
des Gaza-Krieges Zuflucht gesucht.

Um die Zahl ziviler Opfer zu begrenzen, will Israel Berichten zufolge die
Bodenoffensive schrittweise durchführen. Nach Informationen des "Wall Street
Journal" plant das Militär, vor jeweiligen Angriffen die betroffenen Stadtteile
zu evakuieren, bevor es dann zu neuen Gebieten übergehe. Die UN befürchten
derweil, dass ein großer Militäreinsatz die humanitäre Katastrophe im
Gazastreifen noch weiter verschlimmert.

Bericht: Hamas soll Kämpfer mit Waffen versorgt haben

Die israelische Armee hat ihre Vorbereitungen für die Bodenoffensive
inzwischen abgeschlossen und wartet nun auf grünes Licht aus dem Kriegskabinett.
Israels Regierung nutzt die Ankündigung des Einsatzes aber zunächst einmal als
Druckmittel bei den wieder angelaufenen, indirekten Verhandlungen mit der Hamas
über die Freilassung weiterer Geiseln sowie über eine Feuerpause im Gaza-Krieg.
"Entweder ein Abkommen in naher Zukunft oder Rafah", zitierte die "Times of
Israel" einen hochrangigen israelischen Beamten. Israel werde nicht zulassen,
dass die Hamas einen Geisel-Deal hinauszögere, um die geplante Militäroffensive
zu verhindern. Israelische Medien zitierten auch Vertreter der Armee, die
sagten, die Offensive könne mittendrin gestoppt oder ganz abgesagt werden,
sollte ein Geisel-Deal zustande kommen.

Die Hamas hat ihre Kämpfer in Rafah nach Informationen des "Wall Street
Journal" auf den israelischen Einsatz vorbereitet und sie mit Proviant und
Waffen versorgt. Demnach wurde auch die Zahl der Wächter für die Geiseln
verstärkt. Ob die Islamistenorganisation einem Deal mit Israel zustimmt, ist
derzeit offen./edr/DP/he

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