26.04.2024 10:12:09 - dpa-AFX: POLITIK/'Verräter': Nawalny-Team entfacht Streit mit Film über Russlands 90er

MOSKAU (dpa-AFX) - "Habt ihr euch mal gefragt, wann und wie alles schief
lief?", fragt Maria Pewtschich, langjährige Vertraute des kürzlich verstorbenen
Kremlgegners Alexej Nawalny, zu Beginn ihres neuesten Films. Mit "alles" meint
Pewtschich die autoritäre Herrschaft von Russlands Präsident Wladimir Putin, das
repressive Vorgehen gegen Andersdenkende, die Armut vieler Russen und nicht
zuletzt wohl auch den brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Sie schaut ernst in die Kamera. Dann wird in Großbuchstaben der Titel der
Doku-Serie eingeblendet, die das Nawalny-Team in diesen Tagen veröffentlicht:
"Verräter". Die Produktion handelt von den turbulenten 1990er-Jahren in Russland
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie hat innerhalb der russischen
Opposition direkt eine hitzige Diskussion über ihre eigene Vergangenheit
entfacht.

Als Leiterin von Nawalnys Anti-Korruptionsstiftung war Pewtschich bislang
vor allem für Recherchen bekannt, die illegale Bereicherung von Putins Freunden
und Angehörigen aufdeckten. In der jüngsten Veröffentlichung aber geht es
weniger um den Kremlchef selbst, als um die, die ihm um die Jahrtausendwende an
die Macht verhalfen. Zwei jeweils einstündige Teile der Serie sind bereits mit
englischen Untertiteln auf Youtube veröffentlicht und dort millionenfach
angeklickt worden. Ein dritter Teil soll bald folgen.

"Verräter" ist eine Abrechnung mit Russlands erstem Präsidenten Boris
Jelzin, der das Land von 1991 bis 1999 führte, und mit den Oligarchen, die
damals auf dubiose Weise ihre Reichtümer anhäuften. Detailreich schildert
Nawalny-Mitarbeiterin Pewtschich die Werdegänge von berühmten Superreichen wie
Roman Abramowitsch oder dem mittlerweile gestorbenen Boris Beresowski. Sie
kauften in der großen Privatisierungswelle nach und nach Staatsbetriebe auf,
während viele einfache Russen in der chaotischen Umbruchszeit ihr Geld an
Betrüger und undurchsichtige Anlage-Fonds verloren. Skizziert wird, wie die neue
Wirtschaftselite innerhalb kurzer Zeit nicht nur Banken und Ölraffinerien
kontrollierte, sondern auch große Fernsehsender - und wie sie erst Jelzin 1996
zur Wiederwahl verhalf und wenige Jahre später Putin zum Einzug in den Kreml.

Putins heutige Herrschaft - so lautet die Hauptaussage - sei das Ergebnis
dieses korrupten Klüngels, den sein Vorgänger Jelzin einst heranzog und der die
Politik im Land maßgeblich lenkte. Russland habe eine Chance auf Demokratie
bekommen, doch der alkoholkranke Jelzin und die anderen macht- und geldgierigen
"Verräter" hätten sie verspielt. "Heute sehen wir, dass sie das Land in den
Abgrund gestoßen haben", sagt Pewtschich.

Vorlage für die Filmreihe war ein Aufsatz mit dem Titel "Meine Angst und
mein Hass", den Nawalny 2023 im Straflager schrieb und der wohl über seine
Anwälte die Außenwelt erreichte. Schon damals sorgte für Aufsehen, dass der
Oppositionelle und politische Häftling nicht wie gewöhnlich seinen Erzfeind
Putin verbal attackierte, sondern auch die liberale Elite der ersten
postsowjetischen Jahre. "Ich hasse diejenigen, die die historische Chance, die
unser Land zu Beginn der Neunzigerjahre hatte, verkauft, versoffen und vertan
haben. Ich hasse Jelzin (...) und den Rest der korrupten Familie, die Putin an
die Macht gebracht haben", schrieb der damals 47-Jährige darin.

Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei wichtig,
um für eine Zukunft nach Putin zu lernen, argumentieren Nawalnys ins EU-Exil
geflohene Unterstützer nun. Auch Witwe Julia Nawalnaja, die die politische
Arbeit ihres Mannes fortsetzen will, bewirbt die Filmreihe. Doch die Videos
bergen Zündstoff - nicht zuletzt, weil sie auch Menschen an den Pranger stellen,
die sich später gegen den Kremlchef positionierten. In sozialen Netzwerken
hagelt es seit Tagen teils verständnislose Reaktionen.

Nawalnys Team stelle die Jelzin-Ära völlig eindimensional dar, beklagt zudem der politische Analyst Sergej Parchomenko. Seiner Meinung nach gehen die Filme
unfair ins Gericht mit Russlands erstem Präsidenten, dessen Amtszeiten nach
jahrzehntelanger Sowjetdiktatur auch neue Freiheiten, Reformen und
Demokratisierungsprozesse brachten. "In dieser gesellschaftlichen und
politischen Umgebung ist zwar all das passiert, was im Film beschrieben wird,
aber auch kolossal viel, was nicht vorkommt", meint Parchomenko.

Andere Kommentatoren kritisieren, dass die in den Filmen präsentierten
Informationen alle längst bekannt und vor allem reißerisch aufbereitet worden
seien. Es sei unangemessen, die Schuld für Putins Verbrechen auf Jelzin
abzuwälzen, heißt es weiter. Auch halten viele es für wenig zielführend, mitten
im Krieg einen weiteren Keil in die ohnehin zerstrittene und im Ausland
verstreute russische Opposition zu treiben. Putin half es stets, dass die
zersplitterte russische Opposition sich nie gegen ihn vereinigte.

Doch es gibt auch positives Feedback. "Es ist das erste Mal, dass die
Exil-Opposition eine neue nationale Debatte eingeleitet hat, anstatt nur auf das
Verhalten des Kremls zu reagieren", schreiben die beiden
Investigativjournalisten Andrej Soldatow und Irina Borogan in einer Analyse für
das Center for European Policy Analysis. Zudem widerlege die lebhafte Diskussion
die Behauptung, Russlands politische Diaspora sei nach zwei Jahren Krieg
bedeutungslos geworden.

Tatsächlich dürften Nawalnys Anhänger allein das große Echo auf ihre Serie
als Erfolg verbuchen. Immerhin stehen sie nach seinem Tod vor der
Herausforderung, ihren bislang großen Einfluss auf kritische Russen nicht
einzubüßen.

Vor diesem Hintergrund schlägt sogar der frühere Oligarch und heutige
Oppositionspolitiker Michail Chodorkowski, der in den Filmen selbst nicht gut
wegkommt, einigermaßen versöhnliche Töne an: Mit vielen Darstellungen, die die
Mitarbeiter von Nawalnys Anti-Korruptionsfonds FBK in den Filmen untergebracht
hätten, sei er zwar nicht einverstanden, schreibt Chodorkowski. Doch: "Wenn der
FBK auch nur irgendetwas tun kann, um den Krieg zu stoppen und Putins Regime zu
stürzen (und das hoffe ich), dann okay, dann bin ich bereit, mir immer wieder
anzuhören, was für ein Drecksack ich vor fast 30 Jahren war."/haw/DP/ngu

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