25.04.2024 19:05:25 - dpa-AFX: WDH/POLITIK: Prinz Reuß und die Putschpläne - Reichsbürgerprozess beginnt

(Im vorletzten Absatz wurde präsiziert, dass sich der OLG-Präsident  mit dem
Zitat nicht auf die Angeklagten, sondern allgemein auf die  Reichsbürgerszene
bezog. Im Zitat muss es heißen "haben", nicht  "hatten". Zudem wurde die

Überschrift umformuliert.)

STUTTGART (dpa-AFX) - Es ist Stoff, so unglaublich, dass er eigentlich nur
für Filme taugt: Gewaltbereite Männer, Ex-Soldaten, eine Politikerin, vereint
durch den Hass auf die staatliche Ordnung, die sich Hunderte Waffen besorgen,
Feindeslisten entwerfen, den Reichstag stürmen und die Bundesrepublik stürzen
wollen. So lauten die Vorwürfe gegen die mutmaßlichen "Reichsbürger" um Heinrich
XIII. Prinz Reuß. Kommende Woche beginnt in Stuttgart der erste Prozess gegen
die Gruppe. Im streng gesicherten Saal des Oberlandesgerichts Stuttgart in
Stammheim, da, wo sich einst die Mitglieder der RAF-Terrorgruppe verantworten
mussten, wird so erneut Justizgeschichte geschrieben. "Das ist eines der größten
Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik", meint der Präsident
des Oberlandesgerichts, Andreas Singer.

Rückschau: Im Dezember 2022 stürmen Polizisten in mehreren Bundesländern und im Ausland Wohnungen und Häuser. Mutmaßliche "Reichsbürger" um Prinz Reuß sollen
einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland geplant haben. Ergebnis der
großangelegten Anti-Terror-Razzia: Anklage der Bundesanwaltschaft gegen 27
Verdächtige. Der Vorwurf: Sie wollten die bestehende staatliche Ordnung in
Deutschland gewaltsam beseitigen und sie durch eine eigene, bereits in
Grundzügen ausgearbeitete Staatsform ersetzen.

Die Gruppe soll Zugriff auf ein massives Waffenarsenal gehabt und bei den
Umsturzplänen bewusst Tote in Kauf genommen haben. Als Staatsoberhaupt hätte
Heinrich XIII. Prinz Reuß fungieren sollen. Die ehemalige Berliner Richterin und
frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann hätte für das Ressort
Justiz zuständig sein sollen. Auch ein Soldat des Kommandos Spezialkräfte (KSK)
der Bundeswehr gehört zu den Beschuldigten.

Eine Übergangsregierung hätte mit den alliierten Siegermächten des Zweiten
Weltkriegs eine neue staatliche Ordnung in Deutschland verhandeln sollen. Denn:
Sogenannte Reichsbürger behaupten, dass das Deutsche Reich (1871-1945) weiter
existiert, daher auch der Name. Die Bundesrepublik und ihre Gesetze erkennen sie
nicht an.

Der Fall um Prinz Reuß ist so groß, dass ein Oberlandesgericht gar nicht
ausreicht. "Wir wollen nicht in irgendeiner Turnhalle einen Schauprozess
abziehen, sondern müssen uns mit den Individuen auseinandersetzen", erklärt
OLG-Präsident Singer. Deshalb werden die Beschuldigten auf drei Hauptverfahren
aufgeteilt. In Stuttgart geht es um den sogenannten militärischen Arm, in
Frankfurt sind ab 21. Mai die mutmaßlichen Rädelsführer angeklagt, in München ab
18. Juni die übrigen mutmaßlichen Mitglieder. "Dass sich drei Oberlandesgerichte
parallel mit ein und derselben terroristischen Vereinigung befassen, die noch
gar nicht gerichtlich festgestellt wurde, ist außergewöhnlich", sagt Singer.

Die Verhandlungen dürften komplex und aufwendig werden. Angeklagte in einem
Verfahren können als Zeugen in anderen Verfahren geladen werden. Jedes Gericht
muss seine eigenen Beweise erheben und zu seinem eigenen Urteil kommen.
Grundsätzlich seien am Ende auch sich widersprechende Urteile möglich, sagt
Singer - wobei Beobachter dies für unwahrscheinlich halten. Die Erwartung ist,
dass die Bundesanwaltschaft als Anklagebehörde den Überblick be- und die Fäden
zusammenhält. Der Generalbundesanwalt sei das Bindeglied, die Klammer, so
Gerichtspräsident Singer.

Allein der Prozess in Stuttgart hat Dimensionen, die die Kapazitäten der
meisten Gerichte sprengen würden: Neun Angeklagte, fünf Richter, zwei
Ergänzungsrichter als Ersatzspieler, und nicht weniger als 22 Verteidiger. Dazu
strengste Sicherheitsvorkehrungen: Die Angeklagten sitzen hinter dicken
Glasscheiben, per Mikrofon können sie mit ihren Verteidigern sprechen. Singer
berichtet von insgesamt 400 000 Blatt Ermittlungsakten um die Reuß-Gruppe, die
700 Leitz-Ordner füllen.

Die in Stuttgart Angeklagten sollen sich im Jahr 2022 der Vereinigung
angeschlossen und sich für den "militärischen Arm" engagiert haben. Dieser habe
die geplante Machtübernahme mit Waffengewalt durchsetzen sollen. Dazu sei schon
mit dem Aufbau eines deutschlandweiten Systems von mehr als 280 militärisch
organisierten Verbänden, sogenannten Heimatschutzkompanien, begonnen worden. Die
"Heimatschutzkompanie Nr. 221" soll für den Bereich der Gebiete Freudenstadt und
Tübingen zuständig gewesen sein.

Wichtig: Für Beschuldigten gilt bis zu einem etwaigen Urteil die
Unschuldsvermutung. Bezogen auf die Reichsbürgerszene im Allgemeinen macht
Gerichtspräsident Singer deutlich: "Das sind keine netten Onkel, die
irgendwelche komischen Ideen haben." Die wachsende Zahl an Anklagen gegen
Reichsbürger und Rechtsextreme sei Teil einer besorgniserregenden
gesellschaftlichen Entwicklung.

Das zeigen auch die Schüsse von Reutlingen, denen sich das Stuttgarter
Gericht zu Beginn des Prozesses widmen will: Unter den Angeklagten ist nämlich
auch der Mann, der am 22. März 2023 bei der Durchsuchung seiner Wohnung mehrfach
mit einem halbautomatischen Schnellfeuergewehr auf Polizisten eines
Spezialeinsatz­kommandos geschossen und dadurch zwei Beamte verletzt haben
soll./poi/DP/zb

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