19.04.2024 06:22:36 - dpa-AFX: Ex-Geheimdienstchef: Enttarnte russische Spione 'Spitze des Eisbergs'

BERLIN (dpa-AFX) - Der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes
(BND), Gerhard Schindler, befürchtet nach der Festnahme zweier mutmaßlicher
russischer Spione in Bayern weitere noch unentdeckte Fälle. Die enttarnten
Geheimdienstaktivitäten seien keine Überraschung, "sondern die Spitze des
Eisbergs", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Freitag). Spionage
und Sabotage gehörten zum Werkzeugkasten russischer Geopolitik, gerade in
Kriegszeiten. Vor gut zwei Jahren hatte Russland die benachbarte Ukraine
überfallen, die sich auch mit deutscher Militärhilfe verteidigt.

Die beiden verdächtigen Russlanddeutschen sollen für Moskau mögliche
Anschlagsziele ausgekundschaftet haben; ihnen ging es laut Generalbundesanwalt
auch um Sabotageaktionen. Ermittler durchsuchten ihre Wohn- und Arbeitsorte.
Außenministerin Annalena Baerbock ließ deswegen den russischen Botschafter in
Berlin einbestellen.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) betonte am Donnerstagabend nach dem
EU-Gipfel in Brüssel, die Abwehr solcher Aktivitäten müsse hohe Priorität haben.
"Wir können niemals hinnehmen, dass solche Spionageaktivitäten in Deutschland
stattfinden."

Laut CDU-Politiker viele russische Agenten mit Touristenvisa bei uns

Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann
Wadephul, sagte dem RND, der Vorfall müsse ein Weckruf für die
Sicherheitsbehörden sein, vor allem für den Militärischen Abschirmdienst. Denn
Einrichtungen der Bundeswehr seien ein Hauptziel. Der stellvertretende
Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages, Roderich
Kiesewetter (CDU), sagte dem RND: "Man muss auch die Visa-Politik überprüfen.
Denn viele russische Agenten sind mit Touristenvisa bei uns." Der
CSU-Europapolitiker Manfred Weber sagte dem Sender Antenne Bayern: "Wir sollten
alle Naivität ablegen. (Russlands Präsident Wladimir) Putin ist bereits präsent,
er versucht uns jeden Tag zu destabilisieren - auch über Fake News in den
digitalen Medien."

Einer der beiden Männer, Dieter S., soll sich mit jemandem, der mit einem
russischen Geheimdienst in Verbindung steht, mindestens seit Oktober vergangenen
Jahres über mögliche Sabotageaktionen ausgetauscht haben. Er soll sich
bereiterklärt haben, Sprengstoff- und Brandanschläge vor allem auf militärisch
genutzte Infrastruktur und Industriestandorte in Deutschland zu begehen. Der
zweite Beschuldigte, Alexander J., half ihm demnach spätestens seit März.

Der Innenpolitiker Christoph de Vries (CDU) forderte im "Handelsblatt":
"Wenn sich im Fall des Beschuldigten Dieter S. der Vorwurf der Mitgliedschaft in
einer ausländischen terroristischen Vereinigung bestätigt, sollte dies unbedingt
auch die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft für diesen mutmaßlichen
Terroristen zur Folge haben."

Die russische Botschaft in Berlin wies alle Vorwürfe zurück. "Es wurden
keine Beweise vorgelegt, die von den Plänen der Festgenommenen und ihren
möglichen Beziehungen zu russischen Strukturen zeugen", teilte die Botschaft
mit. Die Einbestellung von Botschafter Sergej Netschajew ins Berliner
Außenministerium sei eine "offene Provokation, die auf das Befeuern der ohnehin
schon überbordenden Spionomanie in der BRD und das Anheizen antirussischer
Stimmungen" abziele.

Festnahme in Polen: Angeblich Attentat auf Selenskyj geplant

In Polen sorgte ein weiterer Fall für Aufsehen: Der dortige Geheimdienst hat einen Mann festnehmen lassen, der dem russischen Militärgeheimdienst angeblich
bei der Planung eines Attentats auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr
Selenskyj helfen wollte. Der polnische Staatsbürger sei am Mittwoch gefasst
worden, teilte die Staatsanwaltschaft in Warschau mit. Demnach soll er
Informationen über die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen Rzeszow gesammelt
und an die Russen weitergegeben haben. Selenskyjs Auslandsreisen laufen zumeist
über diesen polnischen Airport, den er von Kiew aus anfährt./toz/DP/zb

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