27.05.2023 18:57:01 - dpa-AFX: POLITIK: Realpolitiker und Machtmensch - Henry Kissinger ist 100 geworden

WASHINGTON (dpa-AFX) - Henry Kissinger ist vielleicht der berühmteste
Diplomat in der Geschichte der USA. Lange, nachdem sich der Deutschamerikaner
aus der Politik zurückgezogen hat, suchten Spitzenpolitiker noch seinen Rat. Und
noch heute teilt Kissinger, der am Samstag 100 Jahre alt geworden ist, gern
seine Meinung zu unterschiedlichen internationalen Themen mit der Welt. Doch der
ehemalige US-Außenminister ist eine kontroverse Figur. Loben ihnen die einen als
brillanten Realpolitiker mit Verhandlungsgeschick, sehen ihn andere als
skrupellosen Machtmenschen - ja gar als Kriegsverbrecher.

Kissinger ist mittlerweile schwerhörig und auf einem Auge blind. Er hat
mehrere Herzoperationen hinter sich. Doch geistig ist er immer noch topfit -
auch wenn er seine Gedanken langsam und manchmal schwer verständlich formuliert.
Auch an Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Er antwortete jüngst im
US-Fernsehen auf die Frage, ob Chinas Präsident Xi Jinping den Hörer abheben
würde, sollte Kissinger anrufen: "Die Chancen stehen gut, dass er meinen Anruf
annimmt." Das gelte auch für Kremlchef Wladimir Putin. Auch mit seinen Ansichten
zu aktuellen internationalen Themen hält er sich nicht zurück.

Zuletzt sagte er der Wochenzeitung "Die Zeit", dass er die Schuld am
Ukraine-Krieg nicht bei Russland allein sehe. Er erinnerte daran, dass er schon
2014 Zweifel am Vorhaben geäußert habe, "die Ukraine einzuladen, der Nato
beizutreten". Kissinger fügte hinzu: "Damit begann eine Reihe von Ereignissen,
die in dem Krieg kulminiert sind." Kissinger sprach in dem Interview weiter von
einem "höchst rücksichtslosen" Angriffskrieg Russlands unter Präsident Wladimir
Putin. Russland dürfe nicht gewinnen.

Geboren wurde Kissinger am 27. Mai 1923 als Heinz Alfred Kissinger in Fürth, Sohn eines deutsch-jüdischen Ehepaares. 1938 floh die Familie vor den Nazis in
die USA. Kissinger wuchs dann in New York auf. Es heißt, als Jugendlicher sei er
so schüchtern gewesen, dass er kaum sprach. Das könnte erklären, warum Kissinger
bis heute einen starken deutschen Akzent hat. Er wurde nach der US-Einbürgerung
1943 zum Militärdienst eingezogen, kämpfte in den Ardennen und arbeitete dann in
Deutschland für die US-Spionageabwehr.

Nach der Rückkehr studierte er mit Hilfe von Stipendien an der
Elite-Universität Harvard Politikwissenschaften und promovierte 1954. In den
Folgejahren lehrte er an der Uni und machte sich als Spezialist für
internationale Politik einen Namen. 1969 holte ihn der republikanische Präsident
Richard Nixon als Sicherheitsberater ins Weiße Haus. Später wurde er
gleichzeitig Außenminister - und blieb zumindest letzteres auch unter Nixons
Nachfolger Gerald Ford. Kissinger prägte die sogenannte Pendeldiplomatie -
reiste zwischen Hauptstädten hin und her und verhandelte zwischen
Konfliktparteien. Als Außenminister war er eine Art Berühmtheit, bekannt für
sein Machtbewusstsein und seine Frauengeschichten.

Kissinger hat viele Erfolge vorzuweisen. Er suchte Entspannung mit China und der Sowjetunion, stiftete Frieden in Nahost, bemühte sich um Abrüstung. So
fädelte er in Geheimgesprächen in der damaligen UdSSR das erste Abkommen zur
strategischen Rüstungsbegrenzung (SALT I) ein. Außerdem verhandelte er 1973/74
das Ende des Jom-Kippur-Krieges aus. Es sind beeindruckende Errungenschaften.
Für viele gilt Kissinger bis heute als außenpolitisches Genie.

Das ist die eine Seite der Geschichte. Kritiker sehen in ihm allerdings
einen Machtpolitiker ohne Moral, der auch Diktaturen unterstützte - solange es
nur seinen Interessen nützte. Dabei, so der Vorwurf, habe der Zweck die Mittel
geheiligt. Er galt damals als zunehmend selbstherrlich und verschlossen. In
einem Interview aus dem Jahr 1972 verglich er sich mit einem Cowboy, der allein
voran reitet und die Kolonne anführt. Später bereute er diese Worte.

Neben den außenpolitischen Erfolgen gibt es eine ganze Liste an Kriegen und
Krisen, in denen Kissinger eine mindestens zweifelhafte Rolle spielte. Da ist
zum einen der Vietnamkrieg: Kissinger soll 1968 einen nahen Friedensschluss
verhindert haben, um Nixon zum Wahlsieg zu verhelfen. 1973 mündeten seine
jahrelangen Geheimverhandlungen mit dem nordvietnamesischen Unterhändler Le Duc
Tho schließlich in einen Friedensvertrag. Beiden wurde der Friedensnobelpreis
zugesprochen - obwohl der Krieg noch bis 1975 weiterging. Kissinger nahm den
Preis an, Le Duc Tho nicht.

Umstritten ist, welche Rolle Kissinger konkret bei der geheimen
Bombardierung Kambodschas während des Vietnamkriegs spielte. Kritiker werfen ihm
vor, dass die Folgen seines Vorgehens der Roten Khmer in dem Land in Südostasien
zur Macht verholfen haben. Auch die Unterstützung der blutigen Invasion
Indonesiens in Osttimor 1975 ist ein dunkler Fleck in Kissingers
außenpolitischer Karriere. Zusammen mit dem US-Geheimdienst CIA soll Kissinger
1973 außerdem in den blutigen Putsch von General Augusto Pinochet gegen Chiles
gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende verstrickt gewesen sein.

Kissinger erhielt Vorladungen von Gerichten in verschiedenen Ländern,
erschien aber nie. Von den Vorwürfen gegen ihn will er bis heute nichts wissen.
Auf die Kritik - und speziell Kambodscha - angesprochen, reagierte er in einem
Interview für das US-Fernsehen ungehalten. Das Thema der Sendung sei doch, dass
er 100 Jahre alt werde, schimpfte er. Und nun komme man mit einer 60 Jahre alten
Sache um die Ecke. Die jüngere Generation, die ihn verurteilt, stellte er als
ignorant dar.

Nach Nixons Rücktritt blieb Kissinger Außenminister - die politische Bühne
verließ er dann nach dem Amtsantritt des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter
1977. Doch der Rückzug aus der aktiven Politik bedeutete für Kissinger nicht,
sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Er gründete eine Beraterfirma, schrieb
mehrere Bücher und ist trotz seines hohen Alters bis heute ein gefragter Redner,
wenn es um außenpolitische Einschätzungen geht./nau/DP/zb

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