09.05.2024 11:00:04 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Pflege in Not - Was gegen Überlastung und Frust getan werden soll

BERLIN (dpa-AFX) - Patientinnen und Patienten, Pflegebedürftige und
Angehörige bekommen Stress und Personalnot in der Pflege in Deutschland längst
zu spüren. Die Suche nach einem Heimplatz oder einer ambulanten Pflege ist oft
zermürbend. Patienten und Heimbewohner berichten über mangelnde Zuwendung. Und
immer wieder kommen Pflege-Missstände in Klinken mit Personalnot ans Licht. Zum
Tag der Pflegenden an diesem Sonntag sind Aktionen von Gewerkschaften und
Pflegenden an vielen Orten Deutschlands geplant, aber auch Feiern von
Arbeitgebern, um die Arbeit der Pflegekräfte zu würdigen. Die Situation der
Pflege, die Perspektiven und die politischen Pläne im Überblick:

Wie schätzt der zuständige Minister die Lage ein?

Dramatisch. "Wir haben große Probleme in der Pflege zugelassen", sagte
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Dienstag auf dem Ärztetag in Mainz.
Jede sechste Schicht sei mittlerweile unterbesetzt. Auch in diesem Jahr dürfte
beim Internationalen Tag der Pflegenden, der jährlich am 12. Mai begangen wird,
der Frust von Betroffenen eine Rolle spielen. Den räumt auch Lauterbach ein:
"Die hohe Desillusion in der Pflege geht auch auf massive Arbeitsüberlastung der
Pflegekräfte zurück."

Sieht die Lage in den Altenheimen besser aus?

Nein. "In der Altenpflege sind die personellen Reserven schon lange
ausgeschöpft", sagt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen
Brysch. Oft könnten die Einrichtungen ihre Schichten gar nicht mehr mit
Fachkräften besetzen. Laut einer Befragung des Evangelischen Verbands für
Altenarbeit und Pflege vom Februar müssen vier von fünf Pflegeeinrichtungen ihr
Angebot einschränken, weil Personal fehlt. Neun von zehn ambulanten Diensten
lehnten 2023 Neukunden ab. Insgesamt kommen auf 100 gemeldete Arbeitsstellen für
examinierte Pflegefachkräfte derzeit nur 44 Arbeitslose.

Gibt es Berufe mit größeren Engpässen?

Nein. "Die ausgebildeten Pflegekräfte stehen an erster Position unter allen
Berufsgruppen mit einem Engpass", so die Bundesagentur für Arbeit. Knapp 1,7
Millionen Pflegekräfte in der Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpflege waren
2023 in regulären Jobs beschäftigt - 10 000 Beschäftigte mehr als im Vorjahr. 82
Prozent aller Pflegekräfte sind Frauen. Von diesen 1,39 Millionen Frauen
arbeitet etwas mehr als jede zweite in Teilzeit.

Wie geht es weiter?

Die Situation dürfte sich zuspitzen. Mit den immer zahlreicheren älteren
Menschen in Deutschland gibt es auch immer mehr Pflegebedürftige. Laut Prognosen
aus der Wissenschaft erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen binnen 15 Jahren
von heute rund fünf auf sechs Millionen. Regional dürfte der Anstieg von
Pflegebedürftigen sehr unterschiedlich ausfallen, besonders stark aufgrund der
Demografie etwa in Bayern und Baden-Württemberg. Zwischen 280 000 und 690 000
Pflegekräfte werden laut Statistischem Bundesamt bis 2049 nach Vorausberechnung
vom Februar bundesweit fehlen.

Was tut die Regierung?

Mehrere Dinge. So wirbt sie um ausländische Pflegekräfte. Tatsächlich geht
das Beschäftigungswachstum in der Pflege seit 2022 ausschließlich auf
Ausländerinnen und Ausländer zurück. Sie stellen inzwischen 16 Prozent der
Pflegenden. Aber die Möglichkeiten sind begrenzt. Lauterbach erklärte: "Wenn wir
die Nachricht übermitteln müssen, hier darf man weniger als das, was man kann,
wird auf keinen Fall besser bezahlt, muss eine schwere Sprache vorher nachweisen
und bekommt keinen Kita-Platz ? so werden wir die Pflegekräfte aus dem Ausland
nicht werben können."

Welche Versuche zur Abhilfe gibt es noch?

Nach jahrelangen Vorbereitungen stimmte der Bundesrat im April einer
Verordnung Lauterbachs zu, die sogar der Deutsche Pflegerat als "Meilenstein"
lobte. Verglichen werden soll Klinik für Klink, wie die Besetzung mit
Pflegepersonal ist und wie sie sein soll. Auf ein Instrument zur Messung des
Pflegepersonalbedarfs hatten sich Krankenhäuser und Arbeitnehmervertreter schon
2019 grundsätzlich geeinigt. In der Altenpflege gibt es eine ähnliche
Personalberechnung seit 2023. Das Personal muss allerdings erst mal gefunden
werden. Deshalb soll der Beruf attraktiver werden. So sollen Pflegekräfte mit
einem Kompetenzgesetz mehr Kompetenzen erhalten, gemäß ihren Qualifikationen.
Die Bundesagentur für Arbeit fördert zudem die Weiterbildung von
Pflegehelferinnen und -helfer zur Fachkraft - denn bei ihnen gibt es viel mehr
Arbeitslose als gemeldete Stellen.

Was belastet die Pflege in Deutschland noch?

Die steigenden Kosten - und die Frage, wer für sie aufkommt. Für die
Altenpflege hatte die Koalition zum vergangenen Juli ein Beitragsplus für
Kinderlose auf 4 Prozent und für Beitragszahler mit einem Kind auf 3,4 Prozent
beschlossen. Die Betriebskrankenkassen schlugen am Montag mit Hochrechnungen
Alarm, nach denen für dieses Jahr ein Defizit der Pflegeversicherung von einer
Milliarde Euro und für 2025 von 4,4 Milliarden droht.

Die Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, mahnt: "Wenn
das Geld der Pflegeversicherung nicht mehr ausreicht, ist die Versorgung der
pflegebedürftigen Menschen gefährdet." Heute schon ignorierten Krankenkassen,
aber auch Kommunen oft erhöhte Personalkosten durch Tarifsteigerungen, sagte
Loheide der Deutschen Presse-Agentur. Lauterbach sieht bereits die reine
Beitragsfinanzierung der Pflegeversicherung vor dem möglichen Ende. Langfristig
komme man um Steuermittel hierfür nicht herum, sagte er vor zwei Wochen auf der
Altenpflegemesse in Essen. Aktuell will die Bundesregierung im Gegensatz dazu
bekanntlich lieber Geld sparen als zusätzlich ausgeben./bw/DP/mis

--- Von Basil Wegener, dpa ---

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