06.05.2024 14:51:21 - dpa-AFX: ROUNDUP/Reparierter Rechtsstaat: Brüssel will Verfahren gegen Polen beenden

BRÜSSEL/WARSCHAU (dpa-AFX) - Polen kann ein halbes Jahr nach dem
Regierungswechsel auf ein Ende des EU-Verfahrens wegen mutmaßlicher Verstöße
gegen europäische Werte hoffen. Die EU-Kommission kündigte am Montag in Brüssel
an, dass sie keine Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der
Rechtsstaatlichkeit mehr sieht und ein Ende des Verfahrens anstrebt. Eine
entsprechende formale Entscheidung soll demnach getroffen werden, wenn die
anderen Mitgliedstaaten bei einem Ministertreffen am 21. Mai keine Einwände
erheben.

Das sogenannte Artikel-7-Verfahren gegen Polen war 2017 eingeleitet worden,
nachdem die damalige nationalkonservative PiS-Regierung begonnen hatte, das
Justizwesen umzubauen. Es hätte theoretisch sogar zu einem Entzug der
Stimmrechte bei EU-Entscheidungen führen können.

Kein Beistand mehr für Ungarn

Sollte das Vorgehen gegen Polen wie geplant gestoppt werden, wäre künftig
nur noch Ungarn von einem Artikel-7-Verfahren betroffen. Dort steht
Ministerpräsident Viktor Orban unter dem Verdacht, die Unabhängigkeit der Justiz
und die Meinungsfreiheit einzuschränken und Korruption zu fördern.

Die seit Mitte Dezember amtierende Mitte-Links-Regierung in Polen hatte den
EU-Partnern im Februar einen Reformplan für die Beseitigung von
rechtsstaatlichen Defiziten präsentiert. Die für die Prüfung zuständige
EU-Kommission zeigte sich bereits damals optimistisch, dass mit ihm die
Unabhängigkeit der Justiz in Polen wiederhergestellt werden kann. Unabhängig von
dem Artikel-7-Verfahren wurden jüngst auch schon EU-Fördergelder in Höhe von 6,3
Milliarden Euro freigegeben, die lange wegen der Rechtsstaatlichkeitsbedenken
zurückgehalten worden waren.

Von der Leyen gratuliert Tusk

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte nun: "Nach mehr als
sechs Jahren glauben wir, dass das Artikel-7-Verfahren beendet werden kann." Sie
gratulierte Ministerpräsident Donald Tusk und seiner Regierung zu diesem
wichtigen Durchbruch. Dieser sei das Ergebnis harter Arbeit und entschlossener
Reformbemühungen. Die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen sei
großartig für das polnische Volk und für die EU als Ganzes.

"Die konsequente Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit zeigt
international weitere Erfolge", schrieb Polens Justizminister Adam Bodnar auf
der Plattform X (vormals Twitter). Polen verdanke die Chance auf eine schnelle
Beendung des Artikel-7-Verfahrens nicht nur der Arbeit seines Ministeriums,
sondern dem Engagement der gesamten Regierung.

Aufwendige Rückabwicklung

Die Eingriffe in das polnische Justizsystem, die die PiS mit ihren
umstrittenen Reformen vorgenommen hatte, waren schwerwiegend. Entsprechend
langwierig und zäh ist es für Tusks Mannschaft, die Justizreformen wieder
zurückzudrehen.

Beispielsweise hatte Justizminister Bodnar bereits im Januar angekündigt,
dass man die Nominierung von Richtern wieder von der Politik entkoppeln wolle.
Ein entsprechender Gesetzentwurf, der die Besetzung des Landesjustizrates neu
regelt, wurde vor zwei Wochen vom Sejm, der ersten Kammer des Parlaments,
verabschiedet.

Der Landesjustizrat ist das Gremium, das Richter für frei werdende Stellen
nominiert. Im Jahr 2018 führte die PiS-Regierung eine Reform ein, nach der 15
der insgesamt 25 Mitglieder des Landesjustizrates durch das Parlament ernannt
wurden - zuvor hatten Richter die Mehrheit der Mitglieder bestimmt. Dieser
Schritt brachte Polen in Konflikt mit der EU-Kommission. Der Europäische
Gerichtshof (EuGH) kritisierte, der Landesjustizrat sei ein Organ, das "von der
polnischen Exekutive und Legislative wesentlich umgebildet wurde", an seiner
Unabhängigkeit gebe es berechtigte Zweifel.

Landesjustizrat soll neu gewählt werden

Künftig sollen wieder allein Richter unterschiedlicher Gerichte über die 15
Sitze im Landesjustizrat bestimmen. Sobald das Gesetz in Kraft tritt, soll der
Landesjustizrat neu gewählt werden - das alte, nach den Regeln der PiS gebildete
Gremium, wird abgelöst. Damit es dazu kommen kann, muss der Gesetzentwurf
zunächst aber noch die zweite Kammer des Parlaments, den Senat, passieren und
von Präsident Andrzej Duda unterzeichnet werden. Dieser letzte Schritt könnte
jedoch zu einer Hürde für das Projekt werden: Duda stammt aus den Reihen der PiS
und hat immer wieder deutlich gemacht, dass er deren Politik stützt. Er könnte
das nach Gesetz also torpedieren./aha/DP/men

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