29.04.2024 06:25:43 - dpa-AFX: VERMISCHTES/Zehn Jahre vertrauliche Geburt: inkognito, aber gut versorgt

MÜNCHEN (dpa-AFX) - Mal ist es die Angst vor dem gewalttätigen Kindsvater,
mal die vor der eigenen Familie, mal liegt eine wirtschaftliche oder psychische
Abhängigkeit zugrunde: Manche Schwangeren sind in solch großer Not, dass sie
ihre Schwangerschaft selbst vor ihrem engsten Umfeld verheimlichen. Doch wo dann
das Kind auf die Welt bringen? Und was passiert mit dem Kleinen danach? Seit
zehn Jahren haben Frauen in besonders schwierigen Lebenssituationen in
Deutschland die Möglichkeit einer vertraulichen Geburt.

Sie wurde am 1. Mai 2014 eingeführt, um Kindstötungen und -aussetzungen zu
verhindern und eine legale Alternative zu Babyklappe und anonymer Geburt zu
schaffen. Zugleich bekommt das Kind zumindest die Chance auf Kenntnis seiner
eigenen Herkunft, die nach Ansicht von Fachleuten für die
Persönlichkeitsentwicklung besonders wichtig ist.

Erste Anlaufstelle ist das Hilfetelefon "Schwangere in Not", das rund um die Uhr in 19 Sprachen unter 0800 40 40 020 erreichbar ist. Dort wird die werdende
Mutter an eine Schwangerschaftsberatungsstelle vermittelt. Deren Mitarbeiterin
ist die einzige Person, die die wahre Identität der Betroffenen erfährt, welche
ansonsten ein Pseudonym erhält.

Die Beraterin vermerkt die Personalien der Mutter auf einem
Herkunftsnachweis, der in einem versiegelten Umschlag zentral aufbewahrt wird.
Der Umschlag wird mit Datum und Ort der Geburt, dem Pseudonym der Mutter und dem
Namen des Kindes versehen. Das Kind wiederum kommt direkt nach der Geburt in
Obhut und wird nach ungefähr einem Jahr zur Adoption freigegeben, sofern die
Mutter ihre Anonymität nicht widerruft. Mit 16 Jahren erhält es das Recht, die
persönlichen Daten seiner Mutter zu erfahren - sofern diese nicht aus
gewichtigen Gründen aktiv widerspricht. Im Zweifel entscheidet ein
Familiengericht.

1166 Frauen haben nach Angaben des Bundesfamilienministeriums bis Februar
2024 vertraulich ein Kind geboren, relativ konstant etwa zehn pro Monat. Daten
aus den einzelnen Bundesländern liegen dem Ministerium nicht vor, doch sind die
Fallzahlen pro Jahr dort jeweils sehr gering - eine große Herausforderung für
das gesamte System vom Rettungsdienst bis zum Standesamt. So wurden
beispielsweise in Bayern als dem flächenmäßig größten Bundesland mit der
zweitgrößten Bevölkerung laut dortigem Familienministerium 2022 nur 17
vertrauliche Geburten registriert.

"Die Gründe für eine vertrauliche Geburt sind ganz verschieden und sehr
individuell", resümiert Evi Kerkak, Fachbeauftragte von Donum Vitae in Bayern.
Der auf Schwangere in Konfliktsituationen spezialisierte Verband war mit seinem
"Moses-Projekt", in dessen Rahmen Frauen im Freistaat schon seit 1999 völlig
anonym gebären können, bundesweiter Vorreiter, was letztlich der vertraulichen
Geburt den Weg geebnet hat.

"Die Erfahrung zeigt, dass das Thema Angst riesig ist", schildert Kerkak. Da ist etwa die junge Frau, die fürchtet, bei Bekanntwerden der Schwangerschaft in
das Heimatland ihrer Eltern zwangsverheiratet zu werden. Oder die werdende
Mutter, der der anderweitig verheiratete Kindsvater die Ermordung des Kindes
androht, sollte sie es nicht abtreiben. Andere Betroffene fürchten, ihre
wirtschaftliche Existenz zu verlieren oder das Familiengefüge zu zerstören.

"Scham ist ein zweiter Grund", zählt Kerkak auf. Etwa bei Müttern, die
bereits Unterstützung vom Jugendamt bekommen und nun ungeplant erneut schwanger
sind. Oder die vergewaltigt wurden. Ein dritter Grund seien psychische
Erkrankungen. Der Gedanke der Betroffenen: "Ich kann nicht mal für mich sorgen,
wie soll ich für ein Kind sorgen können?"

Ein reguläres Adoptionsverfahren kommt als Alternative häufig nicht infrage, weil es in weiten Teilen der Gesellschaft geächtet ist und zudem verschiedene
Stellen - von der Krankenkasse bis zum Notar - von der Geburt erfahren. "Der
Wunsch nach Anonymität ist oft nicht dem Kind gegenüber, sondern der Umgebung",
betont Yvonne Fritz vom Sozialdienst katholischer Frauen.

Die Expertinnen aus der Praxis befürworten das Konzept der vertraulichen
Geburt daher unisono als "bestmöglichen Kompromiss", auch wenn es die meist im
Affekt begangenen Kindstötungen oder
-aussetzungen kaum vermeiden könne. Doch es gibt auch Kritikpunkte:
So bleibe etwa Frauen, die keine gültigen Ausweispapiere haben oder sich illegal
in Deutschland aufhalten, nur die noch immer in einer rechtlichen Grauzone
angesiedelte anonyme Geburt. Auch sei weder geregelt noch finanziert, wie die
Schwangeren zu ihrem eigenen Schutz vor der Geburt außerhalb ihres Umfeldes
untergebracht werden könnten.

Auch könnten Mütter davon abgehalten werden, ihr Kind doch noch anzunehmen,
weil dann die Kosten für die Geburt anfallen - aber nicht alle Betroffenen eine
Krankenversicherung haben. "Und es wird von vielen Seiten gefordert, dass es ein
klares Zeitfenster gibt, nach dem das Kind zur Adoption freigegeben wird", zählt
Kerkak auf.

Noch eines ist den Fachfrauen nach zehn Jahren vertraulicher Geburt wichtig: mehr Anerkennung für die Mütter, die ihr Kind in gute Hände geben. Dann würden
sich auch viel mehr Frauen für eine offizielle Adoption mit all ihren Vorzügen
für Mutter und Kind statt für eine vertrauliche oder gar komplett anonyme Geburt
entscheiden.

"Fast alle Frauen in der Beratung sagen, das Wichtigste ist mir, dass es dem Kind gut geht, und denken zugleich, sie wären wahnsinnig schlechte Mütter",
schildert Heike Pinne vom Beratungsstellen-Verbund pro familia. "Dabei sorgen
sie dafür, dass ihr Kind an einen guten Ort kommt. Denen gebührt allerhöchster
Respekt und nicht Stigmatisierung."/eri/DP/zb

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