19.04.2024 16:44:49 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Baerbock vs. Netanjahu: Eklat zwischen Staatsraison und Machtpolitik

TEL AVIV/CAPRI (dpa-AFX) - Unterschiedlicher könnten Politiker kaum sein:
Annalena Baerbock, 43, steht seit bald zwei Jahren als erste Frau an der Spitze
des Auswärtigen Amts in Berlin. Die Grüne hat sich einem wertegeleiteten Kurs
verschrieben und legt einen großen Akzent auf feministische Außenpolitik.
Benjamin Netanjahu, 74, ist seit Ende 2022 erneut als Ministerpräsident im Amt.
Davor hatte er das Land seit 1996 bereits zwei Mal geführt. Er gilt als
Machtpolitiker, der mit allen politischen Wassern gewaschen ist. Kritiker werfen
ihm vor, sich bisweilen mehr um sein politisches Überleben als um den Staat
selbst zu kümmern. Jetzt hat es zwischen Baerbock und Netanjahu gekracht.

Um kurz nach 23.00 Uhr am Donnerstagabend veröffentlicht die "Bild"-Zeitung
auf der Plattform X (früher Twitter) eine brisante Story. "Riesen-Eklat hinter
verschlossenen Türen" titelt das Blatt, man habe Streit zwischen Baerbock und
Netanjahu enthüllt. Er bezieht sich auf die Berichterstattung israelischer
Journalisten.

Für Baerbock war da gerade ein informelles Abendessen mit ihren Kolleginnen
und Kollegen der G7-Runde demokratischer Industriestaaten im Restaurant "Il
Geranio" auf der italienischen Mittelmeerinsel Capri beendet. Ob sie von der
Berichterstattung am Abend überrascht wurde, ist offen - die "Bild"-Zeitung
hatte im Auswärtigen Amt zu der Darstellung des Treffens mit Netanjahu angefragt
und nachts geschrieben, das Amt habe nicht sofort auf die Anfrage reagiert.

Eine Journalistin des israelischen TV-Senders Channel 13 schildert auf X,
der Ministerin seien Aufnahmen aus dem Gazastreifen gezeigt worden, auf denen
mit Lebensmittel gefüllte Märkte zu sehen waren. Baerbock habe im Gegenzug auf
den Hunger der Menschen in dem Küstengebiet hingewiesen und dem Regierungschef
angeboten, Bilder hungernder Kinder auf ihrem Handy zu zeigen. Netanjahu soll
erwidert haben, sie solle sich Fotos der Märkte und auch von Menschen am Strand
anschauen, es gebe keine Fälle von Hunger dort. Internationalen Experten zufolge
droht in Teilen des Gazastreifens eine Hungersnot.

Baerbock riet ihm dem Bericht zufolge dazu, die Bilder nicht zu zeigen, da
sie nicht der Realität im Gazastreifen entsprächen. Israels Regierungschef
wiederum soll darauf lautstark erwidert haben, dass die Fotos echt seien und
Israel nicht wie die Nazis eine erfundene Realität zeige. Die Nazis hatten 1942
etwa ein Filmteam einen Propagandafilm mit gestellten Szenen des Alltags im
Warschauer Ghetto drehen lassen.

Ein Vergleich mit der Nazi-Zeit auf internationalem Parkett - für jeden
deutschen Politiker ist das eine schwierige Situation, auch hinter
verschlossenen Türen. Baerbock soll Netanjahu daraufhin gefragt haben, ob er
sagen wolle, dass etwa Mediziner im Gazastreifen sowie internationale Medien
nicht die Wahrheit berichteten, heißt es in dem Bericht der israelischen
Journalistin.

Durch den Holocaust mit Millionen von den Nazis getöteten Juden sind
Deutschland und Israel auf besondere Art miteinander verbunden. Auch Baerbock
hat wiederholt betont: Die Sicherheit Israels sei für sie deutsche Staatsraison.
Das macht natürlich auch ihre Beziehung zu Netanjahu besonders.

Der Ministerpräsident hatte Baerbock am Mittwoch gegen Mittag in seinem
Amtssitz in Jerusalem empfangen. Am Nachmittag reiste Baerbock dann weiter zu
dem G7-Treffen. Auf einem Foto von der Begrüßung durch Netanjahu ist zu sehen,
wie sich beide die Hand reichen, mit einem leichten, routinierten Lächeln im
Gesicht.

Seit Wochen kritisiert Baerbock die israelische Regierung dafür, dass diese
aus ihrer Sicht viel zu wenig humanitäre Hilfe in den Gazastreifen lässt.
Verantwortlich aus ihrer Sicht: Netanjahu persönlich. Das will sie ihm nun
sagen, im kleinen Kreis der Delegationen, hinter verschlossenen Türen.

Es ist Baerbocks siebter Besuch in Israel seit dem Terrorangriff der
islamistischen Hamas vom 7. Oktober. Seither lässt der Bundesaußenministerin der
Gaza-Krieg, die Lage der immer noch in der Gewalt der Hamas gefangenen Geiseln
sowie das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, kaum Zeit für Ruhe.

Kritiker zuhause bezweifeln, dass Baerbock mit ihren Israel-Reisen und die
Region überhaupt etwas bewirkt - zumal es schon so scheint, als dringe selbst
US-Präsident Joe Biden als engster Verbündeter bei Netanjahu mit seinen Appellen
nicht durch. Sie selbst sieht das anders. Neben den USA sei Deutschland eines
der ganz wenigen Länder, die überhaupt noch mit der israelischen Regierung
redeten - und von dieser gehört würden. Jedes Gespräch sei wertvoll, auch wenn
es immer nur kleine Schritte seien. Und die arabischen Nachbarn Israels seien
für ihren Einsatz zur Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen dankbar.

Während in den ersten Wochen nach den Hamas-Attacken bei Baerbocks Besuchen
noch vor allem die Solidarität und die Sorge um die Geiseln, die teils auch eine
deutsche Staatsbürgerschaft haben, im Zentrum standen, ist mittlerweile das
Thema Humanität und Versorgung der Zivilbevölkerung in Gaza immer mehr in den
öffentlichen Mittelpunkt gerückt. Immer lauter wurden ihre Appelle an die
israelische Seite, doch endlich mehr Hilfe nach Gaza zu lassen. Es schien schon
länger, als sei Baerbock dabei, Stück für Stück die Geduld mit Netanjahu und
einem Teil der israelischen Regierung zu verlieren.

Das Auswärtige Amt bezeichnet den Bericht über den Disput zwischen Baerbock
und Netanjahu als irreführend. Kernpunkte der Darstellung des einstündigen
Treffens seien falsch, schrieb das Auswärtige Amt am Freitag auf der Plattform X
(vormals Twitter). Vor allem verkürzend sei die Darstellung, ärgert man sich auf
deutscher Seite. Hört man sich um, wird nicht dementiert, dass es von Seiten
Netanjahus auch mal lauter geworden sein.

Zum Abschluss des G7-Treffens äußert sich Baerbock auf eine
Journalistenfrage schmallippig. "Wir berichten nicht aus vertraulichen
Gesprächen", betonte sie - und die Betonung liegt auf "wir". Sie ergänzte: "Uns
gegenüber wurde Bedauern über die Veröffentlichung, deren Quelle unklar sei,
ausgedrückt und wir haben genau dem nichts weiter hinzuzufügen."/bk/cir/DP/stw

--- Von Jörg Blank und Cindy Riechau, dpa ---

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