26.03.2024 10:30:03 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Inklusion am Arbeitsplatz - Unwissenheit und Unsicherheit

ALTDORF (dpa-AFX) - Wenn Eva Lenz zu ihrem Chef eine Etage über ihrem
Arbeitsplatz am Empfang möchte, muss sie einen Umweg über den Hof machen. Mit
Rollstuhl oder Gehhilfen kommt sie die schmale Treppe nicht hoch. Also fährt sie
mit ihrem Rollstuhl zum Eingang des Nachbargebäudes, das einen Fahrstuhl hat und
überwindet in der oberen Etage mit einem Treppenlift vier weitere Stufen.

Die Lösung sei nicht perfekt, gibt Firmenchef Jürgen Reitenspies zu. Eva
Lenz scheint das aber nicht zu stören. Gut gelaunt macht sie sich auf den Weg zu
dem Besprechungsraum auf der Chef-Etage. "Die Kollegen sind nett. Die Arbeit
macht Spaß", sagt sie und erzählt, wie es zu dem Arbeitsvertrag kam.

Schwerbehinderung war kein Hindernis

Dass ihre Schwerbehinderung dabei ein Hindernis sein könnte, das Gefühl habe sie von Anfang an nicht gehabt - auch wenn ihr Arbeitgeber, der Farben- und
Lackhersteller ReiColor in Altdorf bei Nürnberg, dafür extra einen Treppenlift
und Feststellanlagen für die Brandschutztüren einbauen musste.

"Das ist bei uns keine große Frage der Entscheidungsfindung gewesen", sagt
Reitenspies. In der Produktion arbeite bereits seit 20 Jahren ein Beschäftigter,
der im Rollstuhl sitze. Als Familienunternehmer mit knapp 50 Mitarbeitenden sehe
er auch eine soziale Verantwortung. Damit gehört der Chemiebetrieb zu der
Minderheit der Unternehmen in Deutschland, die die gesetzliche Quote bei den
Arbeitsplätzen für Menschen mit Schwerbehinderung erfüllen.

Ein Viertel beschäftigt keine Schwerbehinderten

"25 Prozent der Arbeitgeber, die eigentlich Schwerbehinderte beschäftigen
müssen, beschäftigen keine", sagt Christoph Beyer, Vorsitzender der
Bundes­arbeits­gemein­schaft der Inte­grations­ämter. Die Hälfte der dazu
verpflichteten Betriebe beschäftige zwar Menschen mit Schwerbehinderung, erfülle
aber die vorgeschriebene Quote nicht - und diese Zahlen seien seit Jahren
konstant, sagt er.

Fast 173 800 Menschen mit einer Schwerbehinderung waren nach Angaben der
Bundesagentur für Arbeit im Februar arbeitslos - und damit knapp 7300 mehr als
ein Jahr zuvor. Aktuelle Zahlen zum Arbeitsmarkt stellt die Bundesagentur an
diesem Donnerstag vor. Seit April vergangenes Jahres beobachten die Fachleute
von der Aktion Mensch und vom Handelsblatt Research Institute, dass der
wirtschaftliche Abschwung die Chancen von Menschen mit Behinderung auf dem
Arbeitsmarkt verschlechtere.

Trotz Fachkräftemangels schlechtere Chancen

"Diese werden aus unserer Sicht nicht in Betracht gezogen, obwohl sie gut
ausgebildet sind", sagt Christina Marx von der Aktion Mensch. Das heißt, dass
Unternehmen trotz des Fachkräftemangels nicht nur auf potenziell fähige
Beschäftigte verzichten, sondern auch noch draufzahlen: Betriebe, die keine oder
zu wenig Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen, müssen eine
Ausgleichsabgabe an die Integrationsämter zahlen. Zum Anfang dieses Jahres wurde
diese für Unternehmen erhöht, die gar keine der Pflichtarbeitsplätze besetzen.

Die Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter gilt stufenweise für
Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten. Unternehmen mit mehr als 60
Mitarbeitenden müssen fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zur
Verfügung stellen. Tun sie es nicht, müssen sie die Abgabe zahlen, die sich
bislang zwischen 140 und 360 Euro pro nicht besetzten
Schwerbehinderten-Arbeitsplatz monatlich bewegt und neuerdings bis zu 720 Euro
betragen kann.

Welche Wirkung das hat, wird sich Beyer zufolge erstmals im kommenden
Frühjahr sagen lassen. Seinen Erfahrungen nach geht es bei der Einstellung von
Menschen mit Schwerbehinderung in der Regel aber nicht um Geld. Woran könnte es
also dann liegen, dass Arbeitgeber zögern?

Angst, etwas falsch zu machen

"Vorbehalte sind die größten Hemmnisse", erläutert Marx. Dazu zählten Ängste wie, dass Menschen mit Behinderung weniger leistungsfähig oder öfter krank
seien, aber auch Unsicherheiten, wie man im persönlichen Kontakt mit der
Behinderung umgehen solle oder dass man etwas falsch machen könne. "Aber das
kann man nur abbauen, wenn man auf diese Menschen trifft", meint Marx.

"Meine Chefin sagt immer, ich mache Pionierarbeit", sagt Franziska Sgoff.
Die 27-Jährige ist seit ihrer Geburt blind. Seit 2021 arbeitet sie bei Microsoft
in München und berät Geschäftskunden dabei, wie digitale
Technologien für mehr Barrierefreiheit sorgen können. "Ich habe das Gefühl, dass
auf jeden Fall großes Interesse an dem Thema vorhanden ist. Ich glaube auch,
dass viele Unternehmen Menschen mit Behinderung einstellen möchten, teilweise
aber nicht wissen wie."

Ansprechstellen sollen Lotsen sein

Ein wichtiger Hebel dabei sollen die Einheitlichen Ansprechstellen für
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sein, die 2022 bei den Integrationsämtern
eingerichtet worden sind. Diese sollen Unternehmen begleiten, die Menschen mit
Schwerbehinderung einstellen, indem sie zum Beispiel Unterstützung vermitteln
oder bei den Anträgen helfen. "Sie koordinieren die einzelnen Bausteine",
erläutert Beyer. Und daran scheint es viel Interesse zu geben: "Die
Arbeitgeberanfragen sind erfreulich hoch", sagt Beyer. Erste aussagekräftige
Daten dazu werden seinen Angaben nach voraussichtlich im Sommer vorliegen.

Dass die erhöhte Ausgleichsabgabe und die Ansprechstellen alle Unternehmen
dazu bewegen, Menschen mit Behinderung anzustellen, glaubt Beyer nicht. "Das
wäre realitätsfremd." Aber vielleicht bekommen dadurch mehr Menschen wie Eva
Lenz oder Franziska Sgoff eine Möglichkeit, sich zu beweisen. Bei beiden jungen
Frauen führte ein Praktikum zur Festanstellung, bei beiden kam dieses auf eigene
Initiative zustande. "Da konnte ich zeigen, was ich kann", sagt Sgoff. Auch
andere Menschen mit Behinderung könnten so eine Chance bekommen, meint
sie./igl/DP/mis

--- Von Irena Güttel, dpa ---
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