23.05.2024 11:43:03 - dpa-AFX: POLITIK: Mordprozess gegen Ex-Stasi-Mitarbeiter zieht sich hin

BERLIN (dpa-AFX) - Der Prozess gegen einen Ex-Stasi-Mitarbeiter zu einem
tödlichen Schuss am früheren DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße wird
länger dauern als zunächst geplant. Das Landgericht Berlin geht inzwischen von
Verhandlungsterminen bis zum August aus, wie der Vorsitzende Richter Bernd
Miczajka am Donnerstag mitteilte. Hintergrund sind unter anderem neue
Informationen aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv zu Strukturen an dem belebtesten
Grenzübergang zwischen Ost und West, der wegen der oft schmerzhaften
Verabschiedungen als "Tränenpalast" bekannt ist. Das Gericht zieht in Erwägung,
einen historischen Sachverständigen zu hören.

Angeklagt ist ein heute 80-Jähriger aus Leipzig. Die Berliner
Staatsanwaltschaft wirft ihm heimtückischen Mord vor. Der damalige Oberleutnant
soll am 29. März 1974 den 38-jährigen Polen Czeslaw Kukuczka am Grenzübergang
Friedrichstraße aus zwei Meter Entfernung gezielt von hinten in den Rücken
geschossen haben, so die Anklage. Der Deutsche soll zur Tatzeit einer
Operativgruppe des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit angehört und mit der
"Unschädlichkeitmachung" des polnischen Vaters dreier Kinder beauftragt worden
sein. Die Verteidigerin des Angeklagten hatte zum Prozessauftakt erklärt, ihr
Mandant bestreite die Vorwürfe.

Gericht: "Wir haben einen lückenhaften Erkenntnisstand"

Die drei Kinder - eine Tochter und zwei Söhne - sowie eine Schwester des
getöteten Polen treten im Verfahren als Nebenkläger auf. Der Angeklagte sei Teil
eines Systems gewesen, sagten ihre Anwälte. Um dies zu verstehen und etwaige
Handlungsspielräume beurteilen zu können, sei eine sachverständige Einordnung
wichtig.

Richter Miczajka sagte, das Gericht habe selbst nicht damit gerechnet, wie
viele neue Informationen aus Archiven im Verlauf der Verhandlung bekannt würden.
"Ein Missstand in dem Verfahren ist: Wir haben einen lückenhaften
Erkenntnisstand." Der Richter erklärte, das Gericht habe die
Stasi-Unterlagen-Behörde gebeten, nach weiteren Informationen zum
Grenzkontrollpunkt Friedrichstraße zu suchen.

Wegen seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung wird die Verhandlung
aufgezeichnet. Die Ermittlungen zu dem tödlichen Schuss an dem Grenzübergang
waren über viele Jahre nicht vorangekommen. Erst 2016 gab es laut
Staatsanwaltschaft entscheidende Hinweise auf einen möglichen Schützen aus dem
Stasi-Unterlagen-Archiv. Zunächst ging die Behörde jedoch von einem Totschlag
aus. In diesem Fall wäre die Tat verjährt gewesen. Zuletzt sah die
Staatsanwaltschaft jedoch das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt./mvk/DP/ngu

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