02.07.2024 16:34:53 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP: Hilfe für Opfer des Nazi-Terrors in Polen statt Reparationen

WARSCHAU (dpa-AFX) - Die noch lebenden Opfer der deutschen Besatzung Polens
während des Zweiten Weltkriegs sollen von der Bundesregierung in Kürze Hilfe
erhalten. Das ist Teil eines Aktionsplans, mit dem die deutsch-polnischen
Beziehungen nach dem Wechsel von einer rechtskonservativen zu einer
Mitte-Links-Regierung in Warschau auf eine neue Grundlage gestellt werden
sollen. Der 40-seitige Plan wurde bei den ersten Regierungskonsultationen beider
Länder seit sechs Jahren in Warschau beschlossen. Eine konkrete
Entschädigungssumme enthält er aber nicht.

"Deutschland weiß um die Schwere seiner Schuld, um seine Verantwortung für
die Millionen Opfer der deutschen Besatzung, und um den Auftrag, der daraus
erwächst", sagte Scholz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem polnischen
Regierungschef Donald Tusk. Tusk sagte, die von der Bundesregierung versprochene
Hilfe könne einer neuen Öffnung in den deutsch-polnischen Beziehungen dienen.
"Denn gute Gesten sind in der Politik auch sehr wichtig."

PiS-Regierung belastete das Verhältnis mit antideutschen Tönen

In den vergangenen Jahren hatte die nationalkonservative PiS-Regierung, die
Polen von 2015 bis 2023 führte, das Verhältnis zu Berlin mit antideutschen Tönen
und Reparationsforderungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro zerrüttet. Seit
November 2018 gab es daher auch keine Regierungskonsultationen mehr. Im Dezember
wurde die PiS-Regierung von Tusks Mitte-Links-Bündnis abgelöst. Seitdem hat sich
das Klima verbessert.

Der neue polnische Ministerpräsident hatte schon bei seinem Antrittsbesuch
in Berlin im Februar die Auffassung der Bundesregierung akzeptiert, dass das
Thema Reparationen juristisch abgeschlossen ist. Am Dienstag bekräftigte er das
nochmals und sagte: "Es gibt keinen Geldbetrag, der all das ausgleichen würde,
was im Zweiten Weltkrieg passiert ist." Dennoch gebe es moralisch und auch
materiell Handlungsbedarf. Die Ankündigung des Bundeskanzlers sei nun ein
Schritt in die richtige Richtung.

Bundesregierung will keinen Präzedenzfall schaffen

Wie genau die Hilfe für die Opfer aussehen und wie hoch sie ausfallen wird,
blieb aber unklar. Dafür gibt es Gründe. Die Bundesregierung will verhindern,
dass die Leistungen ein Türöffner für Entschädigungsforderungen anderer
Opfergruppen werden. Statt direkter Finanzhilfen für Einzelne bietet sie daher
zum Beispiel Hilfe über eine Stiftung an, die bestimmte Einrichtungen fördert.

Aber auch für die polnische Regierung ist die Sache heikel. Jeder Betrag,
der öffentlich genannt wird, würde von Befürwortern eines harten Kurses gegen
Deutschland mit den im Raum stehenden Reparationsforderungen der alten Regierung
von 1,3 Billionen Euro verglichen. Die jetzt geplanten Hilfen werden nur ein
Bruchteil davon sein. Schon vor den Konsultationen war ein niedriger
dreistelliger Millionenbetrag im Gespräch.

Schätzungsweise noch 40.000 NS-Opfer

Tusk hofft, dass die Hilfe innerhalb von Monaten geleistet wird. Es geht um
schätzungsweise noch 40.000 Opfer der deutschen Besatzung, die sich Hoffnung
darauf machen können. "Die Situation älterer Opfer ist eine, die uns sehr
bewegt, und da werden wir auch Aktivitäten unternehmen", betonte Scholz, der in
Warschau von zehn Bundesministerinnen und -ministern begleitet wurde.

Ein weiteres Projekt im Dienste der Aussöhnung ist der Bau des
Deutsch-Polnischen Hauses in Berlin. Das Haus soll an die komplizierte
Geschichte beider Länder und die brutale deutsche Besatzung während des Zweiten
Weltkriegs (1939-1945) erinnern sowie einen Ort des Gedenkens für die polnischen
Opfer schaffen. Beide Seiten legen Wert auf eine schnellstmögliche
Fertigstellung dieses Baus, wie es in dem Papier heißt.

Scholz: "Die Sicherheit Polens ist auch Deutschlands Sicherheit"

Die zweite Komponente der deutschen Unterstützung für Polen betrifft den
Schutz der Nato-Ostflanke. Polen zählt zu den Nato-Staaten, die an Russland und
an Belarus grenzen. "Für mich ist wichtig, dass Deutschland bereit ist zu einer
sehr viel größeren Verantwortung für die Sicherheit des Kontinents, dafür, dass
es bei uns in Europa keinen Krieg geben wird", sagte Tusk. Scholz beteuerte:
"Die Sicherheit Polens ist auch Deutschlands Sicherheit". Die Zusammenarbeit im
Bereich Sicherheit und Verteidigung solle gezielt ausgebaut werden.

Der Aktionsplan räumt dem Thema Verteidigung viel Raum ein. "Wir werden die
Interoperabilität und Standardisierung unserer Verteidigungskapazitäten
verstärken, Produktionskapazitäten erhöhen und Investitionen unserer
Verteidigungsindustrie fördern", heißt es darin etwa.

Initiativen bei Panzern und Munition

Konkret ist davon die Rede, im Bereich Panzer und Munition gemeinsame
Initiativen zu entwickeln. Dabei geht es auch um eine erhöhte Verfügbarkeit von
Ersatzteilen für Leopard-Kampfpanzer, die beide Länder an die Ukraine geliefert
haben.

Außerdem wollen Polen und Deutschland ihre "Bemühungen zur Schaffung einer
stärkeren und leistungsfähigeren europäischen Säule in der Nato", die wesentlich
zum Abschreckungspotenzial des Bündnisses beitrage, aufeinander abstimmen, heißt
es weiter. Polen erwägt zudem, sich an der von Deutschland koordinierten
Initiative "European Sky Shield" für eine europäische Luftverteidigung zu
beteiligen./mfi/dhe/DP/jha

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