23.06.2024 14:50:23 - dpa-AFX: POLITIK: Kult um toten Wagner-Chef - Prigoschins Erbe belastet Russland weiter

ST. PETERSBURG (dpa-AFX) - Jewgeni Prigoschin steht als Denkmal fast
lebensgroß auf dem Friedhof Porochowskoje in St. Petersburg. Die Statue des
Chefs der russischen Privatarmee Wagner mit ausgestreckter Hand zieht in Scharen
Anhänger an. Sie greifen nach der Hand, senken den Kopf, halten schweigend inne.
Viele legen rote Nelken nieder - auch Tage nach Prigoschins Geburtstag, der am
1. Juni 63 Jahre alt geworden wäre. Vor einem Jahr, am 23. Juni 2023, zettelte
er einen Aufstand gegen Russlands korrupte Militärführung an, scheiterte damit
am 24. Juni - und starb nach offiziellen Angaben zwei Monate später bei einem
Flugzeugabsturz.

Das Grab rund zehn Kilometer vom Zentrum der Millionenmetropole entfernt ist zu einer Pilgerstätte geworden. Bis heute verehren viele Russen den
schwerreichen Geschäftsmann, einen verurteilten Dieb, engen Ex-Vertrauten von
Kremlchef Wladimir Putin und Gründer des berüchtigten Wagner-Söldnerheers.
Prigoschin kam als Restaurant-Besitzer, Immobilienmogul und Essenslieferant für
Schulen, Kindergärten und Militär zu Reichtum. Wegen seiner gastronomischen
Aktivitäten nannten viele ihn landläufig "Putins Koch".

Wagner-Söldner in neuen Strukturen weiter aktiv

Prigoschin galt als Meister der Desinformation und Täuschung. Mit seiner
international tätigen Internet-Trollfabrik stand er in den USA im Verdacht, sich
in Präsidentenwahlen eingemischt zu haben. Die USA hatten ihn deshalb zur
Fahndung ausgeschrieben.

Prigoschins Wagner-Armee war nicht nur im Ukraine-Krieg im Einsatz, sondern
schon davor etwa in Syrien. Vor allem aber mischte sie kräftig mit in den vielen
Konflikten in Afrika. Dort galt Prigoschin stets als Putins Mann fürs Grobe. Und
nicht nur dort stehen die Wagner-Söldner wegen schwerster Verbrechen gegen die
Menschlichkeit in der Kritik.

Internationale Beobachter gehen davon aus, dass die von Prigoschin
aufgebauten Wagner-Strukturen weiterhin aktiv sind in Afrika - für Russlands
Expansionsstreben. Der Kreml hatte nach seinem Tod schnell klargemacht, dort
weiter für Russlands Interessen zu kämpfen.

Kult um toten Wagner-Chef

Nicht nur in Prigoschins Heimatstadt St. Petersburg ist der Kult um den
Unternehmer lebendig - auch wenn sein Firmenimperium mit dem Unternehmen Konkord
an der Spitze zerschlagen ist. In Moskau legen Menschen in Kremlnähe an einem
improvisierten Gedenkort Blumen nieder. Auch in anderen Orten gibt es Denkmäler
für die Wagner-Truppe.

Am Eingang des Friedhofs Porochowskoje sitzt eine Blumenverkäuferin. Sie
freut sich über das gute Geschäft seit der Beerdigung Prigoschins. Ein paar
hundert Meter sind es bis zum Grab. Pfeile weisen den Weg. Männer in
Motorradklamotten, harte Typen in Tarnfleck oder einfach nur Paare kommen mit
roten Nelken. Einige erzählen, dass sie Prigoschin verehren, weil er als echter
Patriot für ein starkes Russland gekämpft habe.

Arbeiter verlegen in dem unwegsamen Gelände an dem sonnigen Tag edle
Platten, damit Fußgänger leichter zum Grab gelangen. Dort stehen eine russische
Trikolore, eine Flagge der Wagner-Truppe und Blumenkränze. Ein älterer Mann mit
einem Fahrrad erzählt, dass er oft zum Grab kommt. Er beklagt, dass die Behörden
seit dem Flugzeugabsturz am 23. August gar nichts zu den Umständen von
Prigoschins Tod erklärt hätten.

Rätsel um Tod

"Es gibt noch so viele Fragen", sagt der 63-Jährige. Er denkt wie viele in
Russland, dass es sich bei dem Flugzeugabsturz um einen Racheakt des
Machtapparates gehandelt habe, weil Prigoschin einen Aufstand gegen die korrupte
Moskauer Militärführung angezettelt hatte, der schon einen Tag später am 24.
Juni scheiterte. Nicht wenige Russen glauben, dass Prigoschin noch am Leben sei
und in Afrika oder sonst wo weiter seine Geschäfte mache. "Ich glaube das nicht,
er könnte doch nicht da irgendwo im Ausland ruhig sitzen, ohne sich
einzumischen, er würde sich doch um Russland kümmern", meint der Mann.

Putin selbst legte nahe, dass die Wagner-Führung an Bord des Flugzeugs
unsachgemäß mit einer Granate hantiert habe, die dann explodiert sei. Verbreitet
ist aber auch die Sicht, dass die russische Flugabwehr die Maschine gezielt
abgeschossen haben könnte. Bei Prigoschins Marsch auf Moskau vor einem Jahr
schossen seine Truppen ein Flugzeug und sechs Hubschrauber ab. Mindestens 15
russische Militärangehörige sollen dabei getötet worden sein.

Eine internationale Untersuchung zum Absturz von Prigoschins Privatflugzeug
im russischen Gebiet Twer, bei dem auch neun weitere Insassen starben, hat
Russland abgelehnt. Putin ließ später Wagner-Söldner, die monatelang in der
Ukraine kämpften, zu Tausenden in die regulären Streitkräfte und andere Truppen
eingliedern. Und, als würde er Prigoschin doch posthum Recht geben, hat der
Präsident zuletzt Verteidigungsminister Sergej Schoigu ausgewechselt - und
mehrere Vertreter der Militärführung wegen Korruption und Amtsmissbrauchs
verhaften lassen. Aber auch ein anderes Erbe lastet weiter auf Russland.

Wagner-Söldner verbreiten weiter Schrecken in Russland

Mit Putins Erlaubnis hatte Prigoschin in Straflagern zu Zehntausenden
Kämpfer rekrutiert, die sich durch den Kriegseinsatz in der Ukraine von ihrer
Schuld freikaufen konnten. Die verurteilten Schwerverbrecher, darunter etliche
Mörder, kamen, wenn sie überlebten, nach sechs Monaten in Freiheit. Putin
begnadigte Zehntausende von ihnen. Seither wird die Gesellschaft immer wieder
durch Verbrechen dieser Kriegsheimkehrer erschüttert. Oft greifen sie ihre
Frauen, Mütter, Schwestern oder auch Nicht-Angehörige an.

Im April nahmen Beamte im Gebiet Leningrad einen 42 Jahre alten
Wagner-Söldner fest, der seine Freundin nach einem Streit getötet und
zerstückelt hatte. Die Wagner-Armee hatte den zu zwölf Jahren Haft verurteilten
Mörder aus einem Straflager rekrutiert.

Prigoschin hatte die Gefahr einer Zunahme von Verbrechen durch die nach dem
Kriegseinsatz freigelassenen Straftäter stets heruntergespielt. Experten der
Organisation nasiliu.net - Nein zu Gewalt - befürchten aber vor allem in Zukunft
noch eine Zunahme der häuslichen Gewalt, wenn Männer mit posttraumatischen
Belastungsstörungen wieder in ihr altes Leben zurückkehren.

Enthüllungsbuch zu Prigoschin

In ihrem Buch "Nasch Business Smert" (auf Deutsch: "Unser Business ist der
Tod") über Prigoschin und seine Wagner-Truppe zeichnen die russischen
Journalisten Ilja Barabanow und Denis Korotkow anhand von Dokumenten und
Aussagen von Söldnern die Machenschaften der selbst auch von Korruption
geprägten Privatarmee nach. Mehr als 20 000 Wagner-Kämpfer sollen allein in der
Ukraine gefallen sein.

Prigoschin sei ein Abenteurer, ein Mörder, ein Aufständischer gewesen, der
als Anführer einer patriotischen Opposition Putin am Ende gehörigen Schrecken
eingejagt habe - und deshalb beseitigt worden sei, heißt es in dem Buch. Die
Autoren kommen zu dem Schluss, dass Prigoschins Leben ganz beispielhaft stehe
für die "Mechanismen eines mafiosen Staates" unter Wladimir Putin./mau/DP/he

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