15.05.2024 16:14:36 - dpa-AFX: ROUNDUP 2: Lauterbachs 'Revolution' für die Kliniken auf dem Weg
(neu: Durchgehend aktualisiert nach Kabinettsbeschluss und Pk.)
BERLIN (dpa-AFX) - Weniger Finanzdruck, mehr Spezialisierung bei größeren
Operationen: Für die Krankenhäuser in Deutschland kommt ein großer Umbau in
Sicht. Das Kabinett brachte am Mittwoch Gesetzespläne von
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf den Weg, die die
Milliarden-Finanzierung neu ausrichten und einheitliche Qualitätsregeln
verankern sollen. So könnten "Zehntausende Menschenleben gerettet werden", wenn
planbare Eingriffe in besonders geeigneten Standorten stattfinden, sagte der
SPD-Politiker. Von Klinikbranche, Ländern und Opposition kam Kritik, die
Krankenkassen warnten vor einer Kostenlawine.
Lauterbach sagte in Berlin, dass es um eine "Revolution" gehe - und auch
eine Notbremse: Ohne Strukturänderungen drohten Klinik-Insolvenzen, schlechte
Behandlung und weite Wege. Die Reform solle in einer alternden Gesellschaft gute
stationäre Versorgung für alle gewährleisten. Dabei müsse man klar sagen, dass
es zu viele Kliniken gebe. "Deutschland hat nicht den medizinischen Bedarf,
nicht das ärztliche Personal und auch nicht das pflegerische Personal für 1700
Krankenhäuser." Das große Ziel sei daher, dass Qualität zähle und die Häuser,
die man wirklich benötige, eine auskömmliche wirtschaftliche Basis hätten.
Steuern sollen den Wandel die für die Krankenhausplanung zuständigen Länder.
Sie könnten etwa sagen, ob es in einer Region zwei oder vier Standorte für
Wirbelsäulenchirurgie gebe, erläuterte Lauterbach. Und: "Das Geld folgt den
Wünschen der Länder." Die FDP-Expertin Christine Aschenberg-Dugnus sagte,
künftig gelte Qualität statt Quantität. "Das heißt weg vom Hamsterrad."
Grünen-Fachpolitiker Janosch Dahmen sagte, es gebe inzwischen eine
Arbeitsverdichtung, die das Gesundheitspersonal selbst krank mache.
Konkret sieht der Entwurf, der nun in den Bundestag kommt, mehrere
Stellschrauben vor:
Neue Vergütung: Grundlegend geändert werden soll das vor 20 Jahren
eingeführte System mit Pauschalen pro Behandlungsfall. Das soll Krankenhäuser
von Druck zu immer mehr Fällen und teils auch zu Eingriffen befreien, für die
sie keine große Expertise haben. Künftig soll es einen festen Sockel von 60
Prozent der Vergütung allein dafür geben, dass Kliniken eine Grundausstattung
mit Personal und Geräten für bestimmte Leistungen vorhalten, unabhängig von der
Zahl der Fälle. Extra-Zuschläge geben soll es für Kinderheilkunde, Geburtshilfe,
Intensiv- und Unfallmedizin, spezielle Schlaganfall-Stationen und
Notfallversorgung.
Die Steuerung: Die neue Fix-Vergütung soll eine Klinik für
"Leistungsgruppen" bekommen, die ihr das Land zuweist. Sie bilden medizinische
Leistungen ab, und zwar präziser gefasst als grob benannte Fachabteilungen.
Ausgangspunkt sollen 65 Gruppen sein, die maßgeblich auf ein Modell aus
Nordrhein-Westfalen zurückgehen - etwa "OPs an der Wirbelsäule" oder "Leukämie".
Mit definiert werden jeweils einheitliche Qualitätsvorgaben zu Fachpersonal und
Ausstattung. Lauterbach machte klar, dass dabei keine Abstriche infrage kämen.
Denn dies soll bewirken, dass etwa Krebsbehandlungen in Kliniken mit
Spezialkenntnissen laufen.
Kleine Kliniken: Die Vorhaltevergütung soll auch eine Existenzsicherung für
kleinere Häuser gerade in ländlichen Regionen schaffen. "Diese Krankenhäuser
werden durch die Reform geschützt", sagte Lauterbach. Die Länder sollen
Standorte auch zu "sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen" bestimmen
können, die "wohnortnah" stationäre Behandlung mit ambulanten und pflegerischen
Leistungen verbinden, wie es im Entwurf heißt. Generell sollen die
Qualitätskriterien auch in Kooperationen und Verbünden erfüllt werden können. Um
eine schnelle Erreichbarkeit zu sichern, sollen laut Ministerium Ausnahmen
befristet möglich sein.
Finanzspritzen: Angesichts von Finanznöten vieler Kliniken sollen die
Lohnkosten für alle Beschäftigten schon von diesem Jahr an nicht mehr nur zur
Hälfte, sondern voll von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden. Um
den Wandel zu den neuen Strukturen zu unterstützen, soll außerdem ein
"Transformationsfonds" kommen, aus dem von 2026 bis 2035 bis zu 25 Milliarden
Euro aus Mitteln der gesetzlichen Kassen fließen könnten ? sofern sich Länder
jeweils in gleicher Höhe an der Finanzierung beteiligen.
Kosten: Die gesetzlichen Kassen begrüßten eine Steigerung der
Behandlungsqualität. Mit ihren Finanzierungsplänen trete die Regierung in einer
ohnehin angespannten Finanzlage aber "eine Kostenlawine" los, warnte der
Spitzenverband. Der Sozialverband Deutschland kritisierte: "Es kann nicht sein,
dass die gesetzlich Versicherten allein zur Kasse gebeten werden." Im Entwurf
weist das Ministerium auf "Effizienzgewinne und Minderausgaben" durch eine
stärker koordinierte, hochwertigere Versorgung hin. Die Ausgaben für Kliniken
stiegen zuletzt schon auf 94 Milliarden Euro. Das war ein Drittel aller
Leistungsausgaben.
Der Zeitplan: Der Anlauf zur Reform begann am Nikolaustag 2022, als eine
Kommission ein Konzept empfahl. Lauterbach peilt die erste Lesung im Bundestag
vor der Sommerpause an. In Kraft treten soll das Gesetz dann zum 1. Januar 2025.
Wie reibungslos der Prozess läuft, muss sich zeigen. Die Ampel-Koalition steht
in der Frage zusammen, mit den Ländern köchelt aber weiter Streit. Dabei hat
Lauterbach das Gesetz nicht mehr so angelegt, dass es im Bundesrat
zustimmungsbedürftig ist. Umgesetzt werden soll die neue Struktur später Schritt
für Schritt. So soll die neue Vorhaltevergütung ab 2027 "budgetwirksam" werden.
Reaktionen: Die Deutsche Krankenhausgesellschaft protestierte, "im
Blindflug" in ein neues Finanzierungssystem zu starten, sei ein
unverantwortliches Vabanquespiel. Die Vorsitzende der Gesundheitsminister,
Kerstin von der Decken (CDU) aus Schleswig-Holstein, pochte auf Berücksichtigung
einhelliger Länder-Forderungen etwa zu mehr Kooperationsmöglichkeiten für
Kliniken. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,
mahnte im Sender "Phoenix" Erreichbarkeiten in maximal 30 Minuten an.
Unions-Experte Tino Sorge (CDU) monierte einen Umbau im Alleingang auf Kosten
von Ländern und Versicherten. Das Bündnis Sahra Wagenknecht forderte "ein
Schließungsmoratorium für Krankenhäuser"./sam/DP/men
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