12.05.2024 15:49:27 - dpa-AFX: VERMISCHTES/Nach dem Skandal-ESC von Malmö: Grand Prix steht vor Scherbenhaufen

MALMÖ (dpa-AFX) - Es gibt diese Szene, die symbolisch für den ganzen
Eurovision Song Contest (ESC) 2024 steht: Am frühen Sonntagmorgen liegt
plötzlich der gläserne ESC-Pokal in Trümmern. Mitten auf der Bühne von Malmö in
Schweden. Nemo hat erst vor wenigen Augenblicken den Sieg beim größten
Songwettbewerb der Welt eingefahren, als das Missgeschick passiert. Vom Pokal
bleibt der abgebrochene Stumpf am Boden stehen. Die Trophäe wird binnen Sekunden
ersetzt. Doch was das TV-Publikum in den Stunden davor erlebt hat, hat aus dem
ganzen Musikspektakel einen Scherbenhaufen gemacht. "Die Trophäe kann repariert
werden - vielleicht braucht der ESC auch ein kleines bisschen Instandsetzung",
sagt der Schweizer Act später vieldeutig.

Israels Künstlerin Eden Golan ist in diesem Finale lange tapfer geblieben -
doch nach ihrem Auftritt bricht sie in Tränen aus. Sie sieht sich immer wieder
unsäglichen Anfeindungen ausgesetzt. Das Schlimmste daran: Sie kommen nicht wie
erwartet vor allem aus dem Netz oder beschränken sich gar auf Demos draußen vor
der Tür. Die lautesten Hass-Schreie, Pfiffe und Buhrufe erklingen aus dem
Publikum der Halle. Menschen drehen Golan bei deren Auftritt demonstrativ den
Rücken zu. Sie fokussiert sich auf die Jubelrufe, die stets überwiegen. "Es gibt
so viele Menschen, die mich unterstützen." Doch was bitter auffällt: Auch
ESC-Künstler fallen Eden Golan in den Rücken. Das ist neu, unerwartet.

"Ich muss sagen, dass diese ganze Erfahrung wirklich intensiv und nicht nur
angenehm war. Es gab eine Menge Dinge, die zeigten, dass es nicht nur um Liebe
und Einheit geht, und das hat mich wirklich traurig gemacht", sagt Nemo zu den
Spannungen dieses Jahrgangs, die mit dem Gaza-Krieg und den vielen tausend Toten
zusammenhängen.

Dass die Welt auch beim ESC nicht mehr nur aus Regenbögen und Einhörnern
besteht, ist schon Tage zuvor beim gemeinsamen Auftritt aller Künstlerinnen und
Künstler vor der Presse deutlich geworden. Die Zulassung Israels ist das
Hauptthema aller Fragen an Eden Golan. Ihren Rücken gestärkt bekommt sie aus dem
Kreis der Kolleginnen und Kollegen: nicht.

Ein Journalist fragt die 20-Jährige, ob sie sich Gedanken mache, die anderen Acts mit ihrer Anwesenheit in Gefahr zu bringen. Als Golan zunächst nicht
antworten will, bekommt sie aus ihrem Kollegenkreis am Podium Druck. "Warum
nicht?", fragt der Niederländer Joost Klein, der zuvor sein Gesicht demonstrativ
unter einer Flagge vergraben hat. Golan entgegnet: "Ich denke, wir sind alle für
einen und nur einen einzigen Grund hier. Und die EBU hat alle Maßnahmen
ergriffen, um dies einen sicheren und verbindenden Platz für alle zu machen."

Seitenhiebe auch von der griechischen Künstlerin. Auffälliges Gähnen,
Schnarchgeräusche, rollende Augen. Schließlich legt die Musikerin den Kopf auf
den Tisch, während ihre israelische Kollegin das Wort hat. Es bleibt nicht bei
solchen unhöflichen Gesten. Der irische Act Bambie Thug sagt in einem Interview
auf die Frage, ob Israels Teilnahme den ESC belaste: "Es überschattet alles und
widerspricht allem, was die Eurovision sein soll."

Noch vor Beginn des zweiten Halbfinales, bei dem Israel seinen ESC-Auftritt
hat, beziehen die Veranstalter - die Europäische Rundfunkunion (EBU) - Stellung
zu dem Druck aus der Öffentlichkeit. Man sei sich "der tiefen Gefühle und der
starken Meinungen bewusst, die der diesjährige Eurovision Song Contest - vor dem
Hintergrund eines schrecklichen Krieges im Nahen Osten - hervorgerufen hat".
Meinungen seien legitim und verständlich. Die Entscheidung, Israel mit
aufzunehmen, sei jedoch im Ermessen der EBU. "Diese Künstler kommen zur
Eurovision, um ihre Musik, ihre Kultur und die universelle Botschaft der Einheit
durch die Sprache der Musik zu vermitteln."

Doch das verfängt nicht. Und als ob diese Baustelle nicht reichen würde,
kommt in quasi letzter Minute noch eine dazu. Joost Klein ("Europapa") wird
disqualifiziert. Er soll eine bedrohliche Geste gegenüber einer Kamerafrau
gezeigt haben, die ihn filmte, obwohl er das nicht wollte. Am Final-Abend rächen
sich die Holländer und andere Klein-Fans mit Buhrufen und Grölen gegen den
vornehm gekleideten ESC-Chef Martin Österdahl, der in normalen Jahren völlig
unbehelligt und froh hoch über dem Publikum die Punktevergabe einleitet - das
Herzstück des ESC. Seine Stimme bleibt kaum zu hören, so laut schallt es aus dem
Saal. Dazu gesellen sich die Gegner Israels: Jeder Punkt für das Land wird mit
Buhs bestraft.

Wer den ESC schon viele Jahre am Fernseher verfolgt, weiß: Die EBU hat es
gern völlig unter Kontrolle, welches Bild ihr wichtigstes Eurovisionsprojekt
nach außen abgibt. Schon in der Vergangenheit wurden Pfiffe und Buhrufe mit
kleinen Mikrofon-Tricks heruntergepegelt, etwa im Kontext mit der Ukraine und
Russland. Die Kameraführung blendet traditionell gern alles Unangenehme aus:
Protestplakate, wütende Gesichter und unangenehme Meinungen.

Das dies in der heutigen Zeit nicht mehr funktioniert, dürfte für den ESC
2025 in der Schweiz eine Lehre sein. Dann wird Sieger-Act Nemo mit Sicherheit
wieder Teil der Show sein. "Ich hoffe wirklich, dass der Eurovision auch in
Zukunft für Frieden und Liebe stehen wird und kann. Ich denke, daran muss noch
viel gearbeitet werden", sagt Nemo - die Ersatztrophäe neben sich./bok/DP/he

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