24.05.2024 08:00:03 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Letzte Abstimmung: Was das EU-Lieferkettengesetz bedeutet

BRÜSSEL (dpa-AFX) - Lange wurde gerungen - nun steht die wohl letzte
Abstimmung zum EU-Lieferkettengesetz bevor. Bei einem Ministerrat in Brüssel an
diesem Freitag soll es final angenommen werden. Das Vorhaben und dessen
Auswirkungen im Überblick:

Was ist das Ziel des EU-Lieferkettengesetzes?

Ziel des EU-Lieferkettengesetzes ist es, Menschenrechte weltweit zu stärken. Große Unternehmen sollen zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie von
Menschenrechtsverletzungen wie Kinder- oder Zwangsarbeit profitieren. Sie sollen
zudem einen Plan erstellen, der darauf abzielt, sicherzustellen, dass ihr
Geschäftsmodell mit dem Ziel vereinbar ist, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im
Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen.

Betroffene Unternehmen müssen nach Angaben des EU-Parlaments etwa
vertragliche Zusicherungen ihrer Zulieferer einholen. Falls nötig, müssten sie
außerdem kleine und mittlere Unternehmen, mit denen sie Geschäfte machen,
unterstützen, damit diese den neuen Verpflichtungen nachkommen könnten.

Was bedeutet das Gesetz für Verbraucherinnen und Verbraucher?

Der Referent für nachhaltigen Konsum im Verbraucherzentrale Bundesverband
(vzbv), Jochen Geilenkirchen, sieht in dem EU-Lieferkettengesetz eine Entlastung
für Verbraucherinnen und Verbraucher. "Es nimmt diejenigen für nachhaltige
Produkte im Supermarkt in die Verantwortung, die wirklich dafür sorgen können:
die Unternehmen", betonte er. Verbraucherinnen und Verbraucher könnten durch
Kaufentscheidungen ohnehin nicht korrigieren, was in der Lieferkette
schieflaufe.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für
Ernährung und Landwirtschaft habe gezeigt, dass die zu erwartenden
Kostensteigerungen durch das EU-Lieferkettengesetz überschaubar seien. Außerdem
sei es dem Gutachten zufolge weniger wahrscheinlich, dass dadurch bestimmte
Produkte wegfielen als beim schon geltenden deutschen Lieferkettengesetz. Dem
Verband ist nicht bekannt, dass infolge der Einführung des deutschen Gesetzes
Produkte aus bestimmten Regionen weggefallen seien.

Wie unterscheiden sich das europäische und das deutsche Lieferkettengesetz?

Einer der größten Unterschiede ist die Haftbarkeit: Im deutschen Gesetz ist
ausgeschlossen, dass Unternehmen für Sorgfaltspflichtverletzungen haftbar sind -
das EU-Gesetz lässt das zu. Darüber hinaus gilt das deutsche Lieferkettengesetz
für Unternehmen mit 1000 oder mehr Mitarbeitenden. In den kommenden Jahren sind
von der deutschen Version also in der Bundesrepublik mehr Unternehmen betroffen
als von der EU-Variante.

Wie wurde das Gesetz im Verhandlungsprozess abgeschwächt?

Ursprünglich sah ein Kompromiss von Unterhändlern der EU-Staaten und des
Europaparlaments vor, dass Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und
mindestens 150 Millionen Euro Umsatz von den Vorgaben betroffen sind. Diese
Grenze wurde jedoch auf 1000 Beschäftigte und 450 Millionen Euro angehoben, nach
einer Übergangsfrist von fünf Jahren. Nach drei Jahren sollen die Vorgaben
zunächst für Firmen mit mehr als 5000 Beschäftigten und mehr als 1,5 Milliarden
Euro Umsatz weltweit gelten, nach vier Jahren sinken diese Grenzen dann auf 4000
Mitarbeitende und 900 Millionen Umsatz.

Was passiert bei Verstößen gegen das EU-Gesetz?

Die EU-Staaten sollen eine Aufsichtsbehörde benennen, die den Unternehmen
auf die Finger schaut. Diese soll auch Strafen gegen Unternehmen verhängen
können, wenn diese sich nicht an die Vorschriften halten. Es können Geldstrafen
von bis zu fünf Prozent des weltweiten Nettoumsatzes eines Unternehmens fällig
werden.

Was halten Wirtschaftsexperten von den Vorschriften?

Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sieht die Regelung trotz
der Änderungen kritisch. Diese seien aus Sicht der Wirtschaft zwar positiv zu
bewerten, aber "auch leicht abgespeckt bleibt die EU-Lieferkettenrichtlinie
wenig praxistauglich und wird viel Bürokratie mit sich bringen", sagte
DIHK-Präsident Peter Adrian. Rechtsunsicherheit bestehe weiter.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hatte sich hingegen eindringlich für das Vorhaben ausgesprochen.
Deutschland würde ohne eine EU-Version des Gesetzes einen erheblichen
wirtschaftlichen Schaden erleiden, sagte er.

Welche Rolle hat Deutschland bei der Verhandlung des Gesetzes gespielt?

Als Mitte März im Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten eine ausreichende Mehrheit der EU-Länder ihre Zustimmung signalisierte, enthielt sich
Deutschland. Der Grund: Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung. Wichtige
EU-Gesetze werden in Brüssel immer wieder ohne deutsche Zustimmung
verabschiedet. Wenn sich die Bundesregierung auf keine einheitliche Position
einigen kann, schwächt das die Verhandlungsposition Deutschlands in Brüssel.

In diesem Fall hatte die FDP darauf gedrängt, dass Deutschland dem Gesetz
nicht zustimmt, aus Sorge vor Bürokratie und rechtlichen Risiken für
Unternehmen. Politikerinnen und Politiker von SPD und Grünen befürworten die
Regelung dagegen.

Wie geht es weiter?

Der Gesetzestext muss nun nur noch im Amtsblatt der EU veröffentlicht
werden. Danach haben die EU-Staaten gut zwei Jahre Zeit, die neuen Regeln in
nationales Recht umzusetzen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigte
bereits an, dass es keine Doppelbelastung durch das deutsche und das europäische
Lieferkettengesetz geben solle. Gesetzgeberisch werde die Ampel dafür sorgen,
dass Bürokratie beschränkt werde. Das Bundesentwicklungsministerium teilte mit,
es werde Unternehmen bei der Umsetzung des Gesetzes unterstützen. Unter anderem
soll es kostenlose Beratung für Firmen geben./mjm/DP/stk

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