20.05.2024 10:18:57 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Der Präsident ist tot - Wie geht es im Iran weiter?

TEHERAN (dpa-AFX) - Mit dem Tod von Präsident Ebrahim Raisi und
Außenminister Hussein Amirabdollahian verliert die Staatsspitze des Iran zwei
Persönlichkeiten, die die Außen- und Innenpolitik der Islamischen Republik
geprägt haben. Bei dichtem Nebel verschwand ihr Hubschrauber am
Sonntagnachmittag vom Radar. Am Montagmorgen bestätigten Staatsmedien dann den
Tod der beiden. Zur Unfallursache gab es zunächst keine genauen Informationen.

Aufgrund von Protesten, militärischen Spannungen im Nahen Osten und einer
schweren Wirtschaftskrise befindet sich der Iran in einem anhaltenden
Krisenzustand. Was bedeutet der Tod des Präsidenten für das Land?

Wer übernimmt vorübergehend die Amtsgeschäfte?

Irans erster Vizepräsident Mohammed Mochber leitete bereits zwei
Notsitzungen des Kabinetts. Er würde Raisi im Todesfall gemäß Protokoll ablösen.
Laut Verfassung muss ein Rat dann innerhalb von 50 Tagen Neuwahlen organisieren.
Anders als in vielen Ländern ist der Präsident im Iran nicht Staatsoberhaupt,
sondern Regierungschef. Die eigentliche Macht konzentriert sich auf die
Staatsführung mit Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei an der Spitze. Auch
Irans Elitestreitkräfte, die Revolutionsgarden, sind in den vergangenen
Jahrzehnten zu einem Wirtschaftsimperium mit großer Macht aufgestiegen.

Welche unmittelbaren politischen Folgen hat der Tod der Staatsmänner?

Mit Raisis Tod dürfte ein heftiger Machtkampf ausbrechen, schrieb der
Iran-Experte Arash Azizi in einer Analyse für die US-Zeitschrift "The Atlantic".
Raisis Passivität habe Herausforderer unter den Hardlinern ermutigt. Sie würden
seine schwache Präsidentschaft als Chance sehen. "Der Tod von Raisi würde das
Machtgleichgewicht zwischen den Fraktionen innerhalb der Islamischen Republik
verändern", hieß es noch bevor iranische Staatsmedien Raisis Tod bestätigten.

Bei den Parlamentswahlen im März hat sich zudem erneut ein Lager
fundamentalistischer und konservativ-religiöser Politiker durchgesetzt, die auch
Raisi nahestehen. Diese bisher eher unbekannten Abgeordneten könnten versuchen,
mehr politischen Einfluss zu gewinnen. Moderate Politiker des Reformlagers
wurden jüngst immer schwächer, auch weil der Wächterrat - ein mächtiges
Kontrollgremium besetzt mit erzkonservativen Gelehrten - ihre Kandidaturen immer
stärker einschränkte.

Der amtierende Parlamentspräsident Mohammed Bagher Ghalibaf, der bei der
Parlamentswahl zwar schlecht abgeschnitten hat, hat bereits seit langem
Ambitionen auf das Präsidentenamt. Viele Menschen sind nach gescheiterten
Reformversuchen der vergangenen Jahrzehnte ohnehin desillusioniert und blieben
bei der Abstimmung über das Parlament aus Protest fern.

Azizi zufolge haben viele Beobachter erst mit einem heftigen Machtkampf
gerechnet, wenn das Staatsoberhaupt Chamenei stirbt. Der Religionsführer, der in
allen strategischen Belangen das letzte Wort hat, war im April 85 Jahre alt
geworden. Raisi galt als ein potenzieller Nachfolger. "Jetzt werden wir
wahrscheinlich zumindest eine Generalprobe erleben, bei der die verschiedenen
Fraktionen ihre Stärke demonstrieren werden", schrieb Azizi.

Hamidreza Azizi, Gastwissenschaftler an der Berliner Stiftung für
Wissenschaft und Politik, sieht keine gravierenden Veränderungen im politischen
System Irans, da die wichtigen Entscheidungen ohnehin von Chamenei und den
mächtigen Revolutionsgarden getroffen werden. Insgesamt seien die Auswirkungen
von Raisis Tod "weder grundlegend noch ein entscheidender Schlag für das
System", schrieb Azizi auf X. "Er wird den Wettbewerb zwischen den Hardlinern
beeinflussen, aber nicht die strategische Ausrichtung der Islamischen Republik
in der Außen- oder Innenpolitik."

Wie reagiert die iranische Bevölkerung auf die Nachricht des Unglücks?

Tausende Regierungsanhänger strömten in der Nacht zum Montag in die
religiösen Zentren und Moscheen Irans, beteten für den Präsidenten und
fürchteten das Schlimmste. Staatsmedien würdigten Raisis Amtszeit, die
überschattet von Vorwürfen der Misswirtschaft und starker Repression war. In
seiner früheren Funktion als Staatsanwalt soll er im Jahr 1988 für zahlreiche
Verhaftungen und Hinrichtungen politischer Dissidenten verantwortlich gewesen
sein, weshalb seine Gegner ihm den Beinamen "Schlächter von Teheran" verpassten.

Auch wenn sich die Kritik der jungen Generation inzwischen immer mehr gegen
das gesamte System der Islamischen Republik richtet, stand Raisi innenpolitisch
besonders unter Druck. Zuletzt trieb die Regierung ihren umstrittenen Kurs bei
der Verfolgung des Kopftuchzwangs voran und brachte damit Teile der Bevölkerung
noch mehr gegen sich auf. In den sozialen Medien reagierten zahlreiche
Iranerinnen und Iraner mit Schadenfreude auf die Nachricht./arb/DP/men

--- Von Arne Bänsch, dpa ---

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