18.06.2024 13:32:06 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP/Verfassungsschutzbericht: Trend zur Radikalisierung an Rändern

BERLIN (dpa-AFX) - Spionage, islamistische Terroristen und gewaltbereite
Extremisten aus dem rechten und linken Spektrum bedrohen Sicherheit und
Demokratie in Deutschland nach Einschätzung des Verfassungsschutzes aktuell in
hohem Maße. Er habe zur Sicherheitslage in Deutschland "nicht viel Positives zu
berichten", räumt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV),
Thomas Haldenwang, am Dienstag bei der Vorstellung des aktuellen Jahresberichts
seiner Behörde ein. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagt: "Wir müssen
unsere Demokratie aktiv verteidigen."

Insgesamt hat der Verfassungsschutz im vergangenen Jahr einen Zuwachs sowohl im Linksextremismus als auch im Rechtsextremismus festgestellt. Dem Bericht
zufolge stieg die Zahl derjenigen, die dem linksextremistischen Spektrum
zugerechnet werden, um rund 500 Menschen auf rund 37 000 Menschen an. Rund 11
200 Linksextremisten galten im vergangenen Jahr als gewaltbereit. Das waren 3,7
Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Ähnlich verlief die Entwicklung im rechtsextremistischen Spektrum. Der
Verfassungsschutz schätzt 14 500 von insgesamt rund 40 600 Rechtsextremisten als
gewaltbereit ein (2022: 14 000 bzw. 38 800). Den Parteien Heimat (vormals NPD)
und Die Rechte rechnet der Nachrichtendienst inzwischen weniger Mitglieder zu
als noch vor Jahresfrist.

Verlag der Neuen Rechten gilt jetzt als erwiesen extremistisch

Der neurechte Antaios-Verlag von Götz Kubitschek wird laut Haldenwang seit
Anfang Juni nicht mehr als Verdachtsfall, sondern als gesichert
rechtsextremistische Bestrebung beobachtet. Je höher die Einstufung, desto
intensiver sei auch der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, erklärt der
BfV-Chef und fügt hinzu, "alles natürlich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit". Es
handele sich um einen Verlag, der Publikationen mit rassistischen, völkischen,
teilweise auch antisemitischen, geschichtsrevisionistischen Inhalten verbreite.

Neues Gutachten zur AfD soll bald kommen

Die AfD wird vom Verfassungsschutz aktuell als Verdachtsfall beobachtet. Aus den Reihen der AfD und ihrer Nachwuchsorganisation, Junge Alternative (JA),
rechnet das Bundesamt inzwischen 11 300 Mitglieder dem rechtsextremistischen
Personenpotenzial zu, wobei Doppelmitgliedschaften in Partei und JA abgezogen
sind.

Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022 waren rund 10 200
AfD-Mitglieder und JA-Angehörige aufgeführt worden. Um das extremistische
Potenzial innerhalb der AfD einzuschätzen, hatte sich der Verfassungsschutz
damals auf die Wahl- und Abstimmungsergebnisse beim Bundesparteitag 2022 in
Riesa sowie auf Äußerungen von Parteifunktionären berufen. Im aktuellen Bericht
heißt es: "Es besteht weiterhin eine - wenn auch signifikant abnehmende -
Heterogenität innerhalb der Partei, sodass nicht alle Parteimitglieder als
Anhänger extremistischer Strömungen betrachtet werden können."

Die AfD hat seit 2022 nach eigenen Angaben netto Mitglieder dazugewonnen.
Wann der Verfassungsschutz über ein aktuelles Gutachten zur AfD berichtet, das
derzeit erstellt wird, ist noch offen. "Wir wollen uns keine Zeit damit lassen",
sagt Haldenwang. In jedem Fall werde das Bundesamt erst abwarten, was das
nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht in seinen schriftlichen
Urteilsgründen ausführt. Das Gericht hatte am 13. Mai in einem
Berufungsverfahren die Verdachtsfall-Beobachtung der AfD durch den
Verfassungsschutz für rechtens erklärt.

Neuer linksextremistischer Verdachtsfall

Die radikale Klimaschutz-Bewegung "Ende Gelände" hat der Verfassungsschutz
neu als linksextremistischen Verdachtsfall eingestuft. Damit kann der
Inlandsgeheimdienst zur Beurteilung der Aktivitäten dieser Gruppe nun auch
nachrichtendienstliche Mittel nutzen, wie etwa Observation oder das Einholen von
Auskünften über Informanten (V-Leute) aus der Szene. Im Verfassungsschutzbericht
für das Jahr 2023 ist von einer "Verschärfung von Aktionsformen bis hin zur
Sabotage" die Rede.

Grundsatzpapiere von "Ende Gelände" lassen nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz zudem "deutlich eine Radikalisierung im Hinblick auf die
vorherrschenden ideologischen Positionen der Gruppierung erkennen". Im April
hatten rund 100 Aktivisten der Gruppe in Gelsenkirchen das
Uniper-Steinkohlekraftwerk Scholven blockiert.

"Ende Gelände" ist laut Verfassungsschutz in 70 Ortsgruppen organisiert. Mit Ausnahme des Saarlandes soll es inzwischen in allen Bundesländern Ableger geben.
Auf die Frage eines Journalisten, was die Verdachtsfall-Einstufung für Kontakte
der Grünen Jugend und der Jusos bedeute, antwortet Faeser, "dass ich den
Jugendorganisationen empfehle, die Zusammenarbeit zu beenden".

Bedrohung durch islamistische Terrororganisationen

Das islamistische Personenpotenzial bewegt sich mit 27 200 Personen weiter
auf hohem Niveau. Die größte Bedrohung in diesem Spektrum geht laut BfV derzeit
von der Gruppe Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) aus. Der ISPK hat
seinen Ursprung in Afghanistan, seine Anhängerschaft stammt laut
Verfassungsschutz überwiegend aus Zentralasien. Der ISPK habe es geschafft, sehr
viele Anhänger und Mitstreiter hinter sich zu scharen, sagt Haldenwang. Die
Gruppe rufe dazu auf, "große Anschläge" zu begehen.

Und noch eine schlechte Nachricht hat er mitgebracht: "Es ist dem ISPK auch
gelungen, möglicherweise über die Flüchtlingswelle aus der Ukraine, Anhänger
nach Westeuropa zu bringen, die sich jetzt also hier in verschiedenen Ländern
Westeuropas aufhalten." Die Nachrichtendienste der betroffenen Staaten seien
aber in der Lage, "große Vorbereitungshandlungen" wie etwa das Beschaffen von
Waffen, mitzubekommen.

Faeser verweist auf mehrere Festnahmen der vergangenen Monate, durch die
mögliche Anschläge verhindert worden seien, sowie auf Bemühungen ihres
Ministeriums, islamistische Gefährder wieder nach Syrien und Afghanistan
abschieben zu können. Was Afghanistan betrifft, gibt es dazu inzwischen Kontakte
zu den Behörden in Usbekistan. Auch für Syrien gelte, "wir reden mit
Nachbarländern", sagt die Ministerin, die dazu diese Woche bei der
Innenministerkonferenz von Bund und Ländern in Potsdam sicher viele Fragen
beantworten muss.

Angesichts der aktuellen Bedrohungslage bräuchte es eine "aktive, zupackende Innenministerin", sagte die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion,
Andrea Lindholz. Die CDU-Politikerin forderte Faeser auf, das Islamische Zentrum
Hamburg zu verbieten.

Haldenwang: Meinungsfreiheit hat Grenzen

Obgleich die Meinungsfreiheit in Deutschland ein hohes Gut sei, müsse sich
der Verfassungsschutz teilweise auch um die Aufklärung von Bestrebungen auch
unterhalb der Schwelle des Strafrechts kümmern, sagt Haldenwang. Als Beispiel
führt er die jüngsten Kundgebungen von Islamisten in Hamburg an, bei denen das
Kalifat als erstrebenswerte Herrschaftsform gepriesen wurde.

Ein ganzes Kapitel des mehr als 400 Seiten starken Berichts trägt den Titel
"Auswirkungen des Nahostkonflikts und Antisemitismus". Dass die Bedrohung von
Jüdinnen und Juden gewachsen sei, nennt Haldenwang "unerträglich". Faeser
betont, die Sicherheitsbehörden gingen "aktiv gegen jede Art von
antiisraelischer und antisemitischer Hetze vor"./abc/DP/mis

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