16.07.2024 17:09:40 - dpa-AFX: HINTERGRUND 2: Rien ne va plus - Droht Frankreich politischer Stillstand?

(aktualisiert)

PARIS (dpa-AFX) - Nichts geht mehr in Frankreich, zumindest in der Politik.
Vor dem Beginn der Olympischen Spiele und der politischen Sommerpause steht das
wichtige Nachbarland vorerst ohne schlagkräftige Regierung da. Auf der
Kabinettssitzung in Paris entschied Präsident Emmanuel Macron am Dienstag, die
bisherige Regierung von Premierminister Gabriel Attal weiter, aber nur noch
geschäftsführend im Amt zu behalten. Das berichteten französische Medien
übereinstimmend unter Verweis auf beteiligte Minister.

Diese Übergangszeit könne einige Wochen und mindestens bis zum Ende der
Olympischen Spiele im September dauern, hieß es von den Ministern. Damit
zeichnet sich eine längere Phase des Stillstands ab in dem Land, das gemeinsam
mit Deutschland als Motor der EU gesehen wird.

Geschäftsführende Regierung kann nicht gestürzt werden

Die geschäftsführende Regierung kann keine Vorhaben oder Gesetze mehr auf
den Weg bringen, in der aktuell unklaren politischen Lage aber auch nicht durch
ein Misstrauensvotum gestürzt werden. Insbesondere aber können die 17
Ministerinnen und Minister, die bei der Wahl einen Sitz im Parlament erhielten,
am Donnerstag bei der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung bei der
Verteilung von Leitungsposten mit abstimmen.

Dabei hatte am Abend der Parlamentswahl vor gut einer Woche alles noch ganz
einfach ausgesehen. Macrons Mitte-Lager hatte eine Niederlage kassiert, die
zunächst als Favoriten gehandelten Rechtsnationalen von Marine Le Pen waren auf
Rang drei verwiesen worden und das siegreiche neue Linksbündnis hatte auch ohne
absolute Mehrheit gefordert, vom Präsidenten mit der Bildung einer neuen
Regierung beauftragt zu werden.

Bemühungen um Koalition erfolglos

Weder dem Linksbündnis noch Macrons Lager gelang es in der zurückliegenden
Woche aber, mit weiteren Partnern eine tragfähige Regierungskoalition zu
schmieden. Stattdessen waren die letzten Tage in der Pariser Politik von
Taktieren, Feilschen und Tauziehen geprägt. Dabei wurden Mehrheiten abgetastet
und gleichzeitig ausgelotet, wie man den Gegner blockieren kann. Macron, der
sonst die Fäden fest in der Hand hält, kündigte an, mit der Ernennung eines
neuen Premierministers noch zu warten. Er rief die Parteien zur Bildung einer
großen Koalition auf.

Und dann trat am Montag das ein, worauf Macron vielleicht schon früher
gesetzt hatte - die Rivalitäten innerhalb der Linken drohen, zu einem Bruch des
neuen Bündnisses zu führen. Im Kräftemessen mit den Sozialisten über das
Bestimmen eines Kandidaten setzte die Linkspartei die Beratungen über die
Bildung einer Regierung aus.

Solange die Sozialisten auf ihren eigenen Kandidaten bestünden und ein Veto
gegen Bewerber der Linkspartei einlegten, blieben die Beratungen über eine
Regierungsbildung ausgesetzt, teilte die Linkspartei La France insoumise mit.
Sie warf den Sozialisten "politische Blockade" vor. Die Sozialisten wiederum
sprachen von einem undemokratischen Verhalten der Linkspartei.

Mélenchon spekuliert auf Macht

Das Linksbündnis, dem außerdem Grüne und Kommunisten angehören, hatte
eigentlich schon Ende der Woche bestimmen wollen, wer im Falle einer
Regierungsübernahme Premier werden soll. Die Sozialisten benannten ihren
Parteichef Olivier Faure. Die Linkspartei hat neben anderen Kandidaten auch
ihren Gründer und Anführer Jean-Luc Mélenchon im Auge. Der altlinke Stratege ist
vielen bis in die eigene Partei hinein wegen seiner autokratischen und
polemischen Art ein Dorn im Auge. Mélenchon aber spekuliert weiter auf Macht.

Kurzfristig kann der Streit im Linksbündnis Macron in die Karten spielen,
denn ein zerstrittenes linkes Lager wird er kaum mit der Regierungsbildung
beauftragen. Beobachter vermuten aber auch, dass es bei dem Streit der linken
Parteien schon um die Vorherrschaft mit Blick auf eine möglicherweise
vorgezogene Präsidentschaftswahl geht. Angesichts der politischen Krise könnte
Macron sich gezwungen sehen, vor Ende seiner Amtszeit 2027 schon demnächst
abzutreten.

Macron will eigenes Lager in Regierungsmacht halten

Macron rief sein politisches Lager in der Kabinettssitzung am Dienstag nach
Bericht der Teilnehmer dazu auf, einen Vorschlag für eine Regierungskoalition
oder eine Kooperation vorzulegen. Bis zur Ernennung einer künftigen Regierung
könnte Macron sich problemlos bis zum Herbst Zeit lassen, denn dafür gibt es
keine Frist. Der damit einhergehende politische Stillstand könnte sich noch
verlängern, wenn der Präsident sich am Ende mangels stabiler Mehrheit für das
Einsetzen einer aus Experten, hohen Verwaltungskräften und Ökonomen
zusammengestellte technischen Regierung entscheidet. Eine Auflösung des
Parlaments und Neuwahlen sind auf jeden Fall erst in einem Jahr wieder
möglich./evs/DP/nas

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