16.07.2024 06:29:44 - dpa-AFX: POLITIK: Karlsruhe verhandelt zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen

KARLSRUHE (dpa-AFX) - Das Bundesverfassungsgericht befasst sich mit einer
speziellen Problematik bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen. Es geht um eine
gesetzliche Vorgabe, nach der ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber betreuten
Menschen nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus
durchgeführt werden dürfen.

Aus Sicht des Bundesgerichtshofs (BGH) ist diese Regelung nicht mit dem
Grundgesetz vereinbar, das soll das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe nun
prüfen. Ein Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet. (Az. 1 BvL 1/24)

Alternativer Behandlungsort statt Retraumatisierung

Konkret geht es um eine Patientin aus Nordrhein-Westfalen, die laut BGH
unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Sie wohne in einem
Wohnverbund und werde regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus
zwangsbehandelt.

2022 hatte ihr Betreuer den Angaben nach beantragt, der Frau ein Medikament
auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentiere, in der
Vergangenheit sei der Transport in die Klinik manchmal nur möglich gewesen,
indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer
Retraumatisierung.

Das Amtsgericht Lippstadt lehnte die sogenannte stationsäquivalente
Zwangsbehandlung in der Wohneinrichtung ab. Das Landgericht Paderborn wies die
Beschwerde des Betreuers zurück. So landete der Fall am BGH.

Nach dessen Überzeugung ist die Verpflichtung, eine solche Zwangsmaßnahme in einem Krankenhaus durchzuführen, mit der aus Artikel 2 des Grundgesetzes
folgenden Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen
Unversehrtheit und der Gesundheit unvereinbar. Konkret werde dies gerade bei
Betreuten, "die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder
seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen
oder nicht nach dieser Einsicht handeln können".

Hat Gesetzgeber Gestaltungsspielraum überschritten?

Die vom Gesetzgeber angeführten Gründe, weshalb für die Betroffenen
vermeidbare Gesundheitsbeeinträchtigungen hinzunehmen sind, beruhen nach Ansicht
des BGH auf nicht vertretbaren Einschätzungen. So habe er zum Beispiel nicht
berücksichtigt, dass es vielfach wesentlich eher dem Wohl und (mutmaßlichen)
Willen von Betroffenen entsprechen werde, im eigenen Wohnumfeld behandelt zu
werden - statt aus diesem möglicherweise gewaltsam herausgerissen, in eine nicht
vertraute (stationäre) Krankenhausumgebung gebracht und dort eine erhebliche
Zeit lang festgehalten zu werden. Daher kommt der BGH zu dem Schluss, der
Gesetzgeber habe sein Gestaltungsermessen überschritten.

Der Erste Senat am Verfassungsgericht unter Vorsitz von Präsident Stephan
Harbarth will bei der Verhandlung am Dienstag (10.00 Uhr) Fachleute zum
gesetzgeberischen Spielraum befragen. Auch soll es unter anderem um Belastungen
und Gefahren für Betroffene sowie die Berücksichtigung des ursprünglichen freien
Willens Betroffener gehen.

Patientenschützer: Individuelle Gegebenheiten berücksichtigen

Der BGH geht in seinen Erläuterungen unter Berufung auf die damalige
Begründung des Gesetzentwurfs davon aus, dass die grundlegende Frage "nicht
lediglich einen seltenen Einzelfall" betreffe. Menschen mit einer psychischen
Erkrankung, bei denen eine sogenannte Depotmedikation mit Neuroleptika in
regelmäßigen Abständen wiederholt werden soll und bei denen aus medizinischer
Sicht die ärztliche Zwangsmaßnahme nicht in einem Krankenhaus durchgeführt
werden müsste, seien eine zahlenmäßig relevante Gruppe.

Eine konkrete Konstellation mit gesundheitlichen Folgen im Zuge einer
Zwangsmaßnahme dürfte es nach Einschätzung der Deutschen Stiftung
Patientenschutz eher selten geben. Nichtsdestotrotz sei es aber gerade für diese
Gruppe wichtig, dass sich das Karlsruher Gericht mit der Thematik befasse, sagte
Vorstand Eugen Brysch. "Es gibt bislang keinen Ermessensspielraum." Wichtig sei
aber, die individuellen Gegebenheiten zu berücksichtigen.

Der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen (BdB) kann sich moderate
Lockerungen der Regeln vorstellen unter sehr strengen Voraussetzungen - etwa den
Einsatz speziell geschulter Fachbetreuer und Fachbetreuerinnen. "Es ist zu
befürchten, dass erste Ausnahmen vom Verbot einer ambulanten Zwangsbehandlung zu
einer Art "Dammbruch" führen könnten, weil eine Behandlung im eigenen Wohnumfeld
von Dritten als eine weniger einschneidende Maßnahme angesehen wird", erklärte
BdB-Jurist Kay Lütgens. Der Betreuungsgerichtstag, ein Fachverband unter anderem
aus Juristen und Fachkräften aus sozialen, pflegerischen und ärztlichen Berufen,
ist hingegen strikt gegen Änderungen.

Aus Sicht des BGH tut es auch nichts zur Sache, dass es in der Verhandlung
konkret um die alte Fassung eines Gesetzes geht. Auch laut der 2023 in Kraft
getretenen Nachfolgeregel dürfe ein Betreuungsgericht eine ärztliche
Zwangsmaßnahme nur dann genehmigen, wenn die Durchführung der Maßnahme in einem
Krankenhaus ergehen soll./kre/DP/zb

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