07.07.2024 15:18:35 - dpa-AFX: Moderater Politiker Peseschkian gewinnt Wahl im Iran

TEHERAN (dpa-AFX) - Der Iran steht nach dem Wahlsieg des vergleichsweise
moderaten Präsidentschaftskandidaten Massud Peseschkian vor einem möglichen
Politikwechsel. Der frühere Gesundheitsminister setzte sich mit 53,7 Prozent der
Stimmen gegen seinen ultrakonservativen Herausforderer Said Dschalili durch, wie
der Sprecher der Wahlbehörde in Teheran am Morgen verkündete. Angesichts der
komplexen politischen Gemengelage und mächtigen Interessengruppen im Iran ist
jedoch unklar, inwiefern vom Stichwahlsieger Peseschkian tatsächlich ein
signifikanter Kurswechsel zu erwarten ist.

Das Staatsfernsehen zeigte Bilder von Anhängern, die den Wahlsieg des
69-Jährigen in den frühen Morgenstunden mit Hupkonzerten feierten. In der
Hauptstadt Teheran waren die Reaktionen zunächst jedoch verhalten.

Der Politiker gehört zum Lager der Reformbewegung. Ihre Anhänger glauben an
den Status quo der Islamischen Republik und wollen das System nach eigenen
Angaben von innen reformieren. Dschalili hingegen gehört den sogenannten
Fundamentalisten an, dem zweiten großen Politik-Bündnis, die oft auch als
Hardliner bezeichnet werden.

Peseschkian: Werden allen die Hand reichen

Den Glauben an große innenpolitische Veränderungen haben die meisten Iraner
und vor allem junge Menschen jedoch inzwischen verloren. Reformen des
politischen Systems seien nicht möglich, heißt es oft resigniert.

"Wir werden allen die Hand der Freundschaft reichen", sagte Peseschkian nach seinem Wahlsieg. "Lasst uns alle am Aufstieg des Landes arbeiten." Auch
politische Konkurrenten seien Brüder. Der unterlegene Dschalili gratulierte
seinem Kontrahenten am Nachmittag und sagte ihm seine Unterstützung zu. Auf der
Plattform X schrieb er, er werde Peseschkians "Regierung helfen, um die Probleme
zu überbrücken und den Fortschritt des Landes voranzutreiben". Dass die
verfeindeten Lager tatsächlich kooperieren, gilt allerdings als
unwahrscheinlich.

Wahlbeteiligung leicht höher als bei der ersten Wahlrunde

Rund 61 Millionen Menschen waren am Freitag dazu aufgerufen, sich in der
zweiten Abstimmungsrunde zwischen Peseschkian und Dschalili zu entscheiden. Das
Innenministerium verlängerte die Möglichkeit zur Stimmabgabe mehrfach bis in die
späten Abendstunden. Letztlich entschieden sich gut 16,4 Millionen
Wahlberechtigte für den moderaten Kandidaten Peseschkian, etwa 13,5 Millionen
für Dschalili.

Wie bereits bei der diesjährigen Parlamentswahl waren die Wochen vor der
Abstimmung von auffälliger Gleichgültigkeit geprägt. In der ersten Runde schlug
sich das in einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von rund 40 Prozent
nieder. In der zweiten Runde erreichte die Beteiligung dann 49,8 Prozent.

Die vorgezogene Wahl folgte auf den Tod von Amtsinhaber Ebrahim Raisi, der
im Mai bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen war. Seine knapp
dreijährige Regierungszeit war von großer politischer Repression, Protestwellen
und einer Verschlechterung der Wirtschaftslage geprägt.

Reformkandidat will Vertrauen des Volkes zurückgewinnen

Peseschkian stammt aus dem Nordwesten des Landes. Während des Ersten
Golfkriegs mit dem Nachbarn Irak absolvierte er ein Medizinstudium und diente
zwischenzeitlich auch an der Front. Nach dem Krieg führte er seine Arbeit als
Arzt fort und machte in der Millionenmetropole Tabris als Herzchirurg Karriere.

Im Wahlkampf warb der eher unscheinbare Politiker für ein neues
Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Volk, denn die meisten Iraner sind
nach gescheiterten Reformversuchen maßlos enttäuscht von der Politik. Wie viele
andere Politiker des Reformlagers auch forderte Peseschkian eine Verbesserung
der Beziehungen zum Westen, auch um das Land zu öffnen und die angeschlagene
Wirtschaft anzukurbeln.

Der Witwer, der Anfang der 90er Jahre seine Ehefrau und einen seiner Söhne
bei einem Verkehrsunfall verlor, erschien auf seinen Wahlkampfterminen auch mit
Tochter und Enkelkind. Mit seinem Bemühen um Nahbarkeit und dem Wahlkampfslogan
"für Iran" wollte Peseschkian deutlich machen, dass er sich für das Volk
einsetze.

Inwieweit er dieses Versprechen einlösen will und kann, ist unklar.
Peseschkian bekundete seine uneingeschränkte Loyalität zu Religionsführer
Ajatollah Ali Chamenei, der in allen strategischen Belangen das letzte Wort hat
und der mächtigste Mann in der Islamischen Republik ist.

Während der zweiten Präsidentschaft Mohammed Chatamis (2001-2005) sammelte
Peseschkian bereits Regierungserfahrung als Gesundheitsminister. Trotz seiner
gemäßigten Rhetorik stellte er sich hinter die mächtigen Revolutionsgarden,
Irans Elitestreitmacht, und lobte den jüngsten Angriff mit Drohnen und Raketen
auf den Erzfeind Israel im April. In den TV-Debatten bezeichnete er sich selbst
als wertkonservativen Politiker, der jedoch Reformen für notwendig hält.

Experte: Symbolischer Erfolg

"Selbst unter Anhängern des Regimes gibt es trotzdem bedeutende Massen, die
sich für einen moderateren Umgang, für vorsichtige Reformen aussprechen", sagt
der Politikwissenschaftler Tareq Sydiq von der Marburger Universität. Er sieht
in Peseschkians Wahlsieg einen symbolischen Erfolg für moderate und
reformgesinnte Kräfte innerhalb des Irans. "Das wird sicherlich auch innerhalb
des Machtsystems zumindest zur Kenntnis genommen werden", sagt der Iran-Experte.

Es sei auch unklar, wie Peseschkian in der Praxis seine Kritik an der
Kopftuchpolitik und den scharfen Kontrollen der Moralpolizei umsetzen will. "Ob
sich die verschiedenen Machtblöcke von seinen Ideen beeindrucken lassen, ist
offen." Insgesamt bleibe aber abzuwarten, ob die eigentlich totgesagte Bewegung
der Reformpolitiker wieder an die Macht kommt. Das Parlament ist aktuell
mehrheitlich von radikalen Hardlinern dominiert.

Wirtschaftskrise im Fokus der Wahlkampfdebatten

Irans politisches System vereint seit der Revolution von 1979
republikanische und auch theokratische Züge. Freie Wahlen gibt es jedoch nicht:
Der sogenannte Wächterrat, ein mächtiges islamisches Kontrollgremium, prüft
Kandidaten stets auf ihre Eignung. Von 80 Präsidentschaftsbewerbern ließ der
Wächterrat diesmal nur sechs als Kandidaten zu.

Anders als in vielen anderen Ländern ist der Präsident im Iran nicht das
Staatsoberhaupt. Die eigentliche Macht konzentriert sich auf den
Religionsführer, seit 1989 ist das Chamenei. Auch die Revolutionsgarden haben
ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss in den vergangenen Jahrzehnten
ausgebaut.

Im Wahlkampf debattierten die Kandidaten vor allem über Wege, die
gravierende Wirtschaftskrise im Land zu bewältigen. Wegen seines umstrittenen
Atomprogramms ist der Iran mit internationalen Sanktionen belegt und vom
weltweiten Finanzsystem weitgehend abgeschnitten. Das Land benötigt
Investitionen in Milliardenhöhe. Daneben diskutierten die Bewerber über
innenpolitische Themen, Kulturpolitik und den Umgang mit dem Westen.

Nichtwähler haben Glauben an politische Veränderungen verloren

Einige Aktivisten wie die inhaftierte Friedensnobelpreisträgerin Narges
Mohammadi hatten vor der Präsidentenwahl zum Boykott aufgerufen. Der Tod der
jungen Kurdin Jina Masa Amini im Herbst 2022 entfachte landesweite Proteste
gegen das islamische Herrschaftssystem. Große Straßendemonstrationen hat es
seitdem nicht mehr gegeben, wohl auch aus Angst vor gewaltsamer Repression. Die
Enttäuschung ist jedoch allgegenwärtig. Viele gebildete Iranerinnen und Iraner
mit guten Abschlüssen wollen das Land verlassen./arb/DP/he

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