26.06.2024 09:15:11 - dpa-AFX: POLITIK: 'Die Leute haben zu kämpfen' - Großbritannien vor politischem Umbruch

DOVER (dpa-AFX) - Nicht lange ist es her, da gab der britische
Premierminister Rishi Sunak ein folgenreiches Fernsehinterview. Seine Familie
sei damals mit sehr wenig eingewandert und habe alles in Bildung investiert,
erzählte der 44-Jährige. Welche Dinge geopfert worden seien? Der Premier
druckste etwas herum. "Es gab viele Sachen, die ich als Kind gewollt hätte, aber
nicht haben konnte", sagte Sunak. Er gab dann eine Antwort, die seitdem oft
verspottet wurde. "Sky TV, das war etwas, was wir in unserer Jugend nie hatten."

Andere Politiker gaben ähnliche Antworten, aber am Multimillionär Sunak,
dessen Schwiegervater zu den wohlhabendsten Männern Indiens gehört, blieb die
Aussage hängen. Seiner Konservativen Partei droht nun nach 14 Jahren und fünf
Regierungschefs am 4. Juli die Abwahl. Wer verstehen will, woran das liegt, kann
zum Beispiel in Dover anfangen.

Welches Image dem Premier anhaftet

In der Küstenstadt stehen mehrere Geschäfte in der Einkaufsstraße leer,
Touristen besuchen die berühmten weißen Klippen, und es gibt Fish and Chips für
9,80 Pfund (11,60 Euro). In London zahlt man auch mal doppelt so viel. Auf dem
Marktplatz sitzen zwei ältere Ladys.

Sunak sei in Ordnung, findet eine 84-Jährige, "aber er lebt nicht in der
realen Welt." Er sei ja reicher als der König. Und dann erzählt sie die Szene
aus dem Fernsehinterview nach und verdreht die Augen. Sie habe immer die
konservativen Tories gewählt, sagt die Rentnerin, aber diesmal wisse sie nicht,
was sie machen werde.

"Die Leute haben zu kämpfen, wissen Sie?"

Meinungsumfragen sagen Sunaks Partei eine verheerende Niederlage voraus.
Einem Modell von Yougov zufolge könnte die Partei von gut 360 Sitzen im
Parlament auf etwa 100 abstürzen. Keir Starmer von der sozialdemokratischen
Labour-Partei dagegen hat gute Chancen, der nächste Premierminister zu werden.

Manche Leute, die sich in Dover auf der Straße ansprechen lassen, wirken
desillusioniert. Niemand von den Kandidaten werde seine Stimme bekommen, erzählt
ein Mann von der Straßenreinigung. "Ich glaube an keinen von denen. Die tun
nichts fürs Land." So sei es im Vereinigten Königreich immer gewesen. "Die Leute
haben zu kämpfen, wissen Sie?" Die Mieten und Immobilienpreise seien hoch. Die
Politiker müssten mehr Wohnraum schaffen. "Und na ja, sie müssen im Grunde das
Land in Ordnung bringen."

Warum manche von Broken Britain sprechen

Manches an Großbritannien ist so charmant, wie Reiseführer es versprechen.
Paläste, Pubs und Leute, die sich beim Busfahrer bedanken und gerne Small Talk
halten. Bei einer Militärparade zu Ehren von König Charles III. betonten neulich
zwei Besucherinnen, sie seien stolz, britisch zu sein. Den Union Jack tragen sie
hier gerne vor sich her.

Gleichzeitig existieren andere Seiten. Der Brexit und die Politik der
Kurzzeitregierungschefin Liz Truss haben der Wirtschaft zugesetzt. Der
staatliche Gesundheitsdienst NHS ist überlastet, und in vielen Wohnungen stehen
Anti-Schimmel-Sprays. Ex-Premier Gordon Brown warnt regelmäßig vor der Armut im
Land. Und die Tafeln des Trussell Trust haben im vergangenen Jahr doppelt so
viele Notfallpakete verteilt wie vor fünf Jahren.

"Einige Wähler werden das Problem auf Migranten schieben"

"Die Wirtschaft ist fast immer das wichtigste Thema bei Parlamentswahlen im
Vereinigten Königreich", erklärt Politikwissenschaftler Mark Garnett von der
Universität Lancaster. In diesem Jahr sei es vor allem die Inflation. Die
Konservativen hätten versucht, sich darum zu kümmern, etwa indem sie geholfen
hätten, die hohen Energiepreise abzufedern. Die Preise in Geschäften seien aber
trotz gesunkener Inflationsrate noch viel höher als vor zwei Jahren.

Wohnraum spiele in diesem Wahlkampf eine größere Rolle als sonst, sagt
Garnett. Das liege daran, dass das Problem - welches die Tories nicht angegangen
seien - nun entscheidende Wählerschichten betreffe, etwa durch höhere
Hypothekenzinsen und Mieten. Das zugrundeliegende Problem sei ein chronischer
Wohnungsmangel, der das Scheitern der konservativen Politik der freien Märkte
seit Premierministerin Margaret Thatcher zeige.

"Einige Wähler werden das Problem auf Migranten schieben", sagt Garnett.
Aber auch davon können die Tories seiner Einschätzung nach nicht profitieren,
weil sie ihr Versprechen, die Zuwanderung zu reduzieren, nicht eingelöst hätten.
Sunaks Beharren auf einen Abschiebedeal mit Ruanda, der von Gerichten und
Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wurde, konnte die Umfragen nicht
herumreißen. Und dürfte bei einem Regierungswechsel vom Tisch sein.

Was auf die nächste Regierung zukommt

Zuwanderung erhöhe den Druck auf öffentliche Dienstleistungen in einigen
Teilen des Landes und trage zur Wohnraumkrise bei, sagt Garnett. Für Wähler, die
positiv auf kulturelle Vielfalt schauten und wüssten, dass etwa im
Gesundheitssystem Arbeitskräfte gebraucht würden, sei das ebenfalls Thema.

Auch in Dover, wo der Tag langsam ausklingt, sprechen die Menschen das Thema Migration an, ebenso die Wartezeiten beim NHS, die Lage der Innenstadt oder
Verteilungsfragen. Ein Mann geht in den Imbiss "Roosters Inn". "Die
Konservativen ignorieren die Leute auf der Straße", findet er. Sunak alleine
könne man dafür nicht verantwortlich machen, es sei die ganze Regierung und das
schon seit Jahren. "Bis die es nicht schaffen, was zu ändern, will ich keine
konservative Regierung mehr sehen."/kil/DP/tih

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