20.06.2024 13:35:53 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Krieg zwischen Israel und Hisbollah hätte verheerende Folgen

TEL AVIV/BEIRUT (dpa-AFX) - Seit mehr als acht Monaten beschießen Israel und
die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah sich ständig. Zuletzt nahm die
Intensität der Gefechte deutlich zu. Die Sorge vor einem noch deutlich größeren
Waffengang zwischen Israel und der Hisbollah ist groß. Es wird befürchtet, dass
ein offener Krieg sich zu einem regionalen Konflikt ausweiten könnte, in den
auch die USA als wichtigster Verbündeter Israels hereingezogen würden.

Was bedeutet ein offener Krieg zwischen Israel und der Hisbollah?

Experten gehen davon aus, dass die Hisbollah deutlich stärker ist als
während des letzten großen Kriegs mit Israel 2006. Die Miliz hat jahrelange
Kampferfahrung im Syrien-Krieg gesammelt. Mit iranischer Unterstützung kämpfte
sie an der Seite der Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Ähnlich
wie die Hamas im Gazastreifen hat die Hisbollah im Libanon ein unterirdisches
Tunnelsystem aufgebaut, aus dem die Milizionäre die Kämpfe führen könnten. Die
Hisbollah verfügt über ein Arsenal von rund 150 000 Raketen. Im Kriegsfall
könnte sie täglich tausende von Raketen auf israelische Städte feuern und
wichtige Infrastruktur ausschalten. Ein Raketenhagel könnte Israels
Raketenabwehr überfordern.

Hisbollah kann fast jedes Ziel in Israel treffen

"In einem schonungslos geführten Krieg wird es mehr Zerstörung an der
Heimatfront und tiefer in Israel geben", sagte der israelische Brigadegeneral
Schlomo Bron der "New York Times". Die Hisbollah könnte mehr oder weniger jedes
Ziel in Israel treffen, darunter auch zivile Einrichtungen, "so wie wir den
Süden Beiruts angreifen würden", sagte er mit Blick auf Viertel im Süden der
libanesischen Hauptstadt, die als Hisbollah-Hochburg bekannt sind.

Für den bereits wirtschaftlich und politisch gebeutelten Libanon hätte ein
solcher Krieg fatale Folgen. Man werde das Nachbarland im Fall eines Kriegs "in
die Steinzeit zurückversetzen", hatte der israelische Verteidigungsminister Joav
Galant im vergangenen Jahr gewarnt.

Riad Kahwaji, Direktor des Institute for Near East and Gulf Military
Analysis (INEGMA), schätzt das Kräfteverhältnis zugunsten Israels ein. "Egal,
wie viel Schaden die Hisbollah in Israel anrichtet, die Israelis werden zehn-
bis hundertmal so viel anrichten", sagt er. Die Hisbollah dränge nicht auf einen
Krieg, sondern wolle Israel vor allem abschrecken. Bisher habe sie ihre Angriffe
in Grenzen gehalten.

Nasrallah: Hisbollah wird "ohne Einschränkungen" zurückschlagen

Hört man dem Generalsekretär der Hisbollah bei seinen stundenlangen Reden
zu, so könnte man den Eindruck bekommen, der Konflikt sei längst entschieden -
und zwar zugunsten seiner Miliz. Hassan Nasrallah wird nicht müde, den Erfolg
der Hisbollah und die "Erschöpfung des Feindes" zu betonen. "Wenn sie (die
Israelis) dem Libanon einen Krieg aufzwingen, wird der Widerstand ohne
Einschränkungen, Regeln und Grenzen zurückschlagen", warnte er in seiner
jüngsten Ansprache am Mittwochabend.

Nasrallahs feiert seine "Libanon-Front" für ihren Erfolg, insbesondere auch
weil sie seiner Darstellung nach zu wirtschaftlichen und touristischen Verlusten
in Israel geführt haben soll. Außer Acht lässt er dabei die Situation im Libanon
selbst. Denn der von Krisen und Korruption zerfressene Mittelmeerstaat ist kaum
in der Lage, einen Krieg zu führen. Schon jetzt steckt der Libanon in der
schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Zudem gibt es weder einen
Präsidenten noch eine voll handlungsfähige Regierung. Kahwaji sagt, ein größerer
Krieg würde die Destabilisierung weiter vorantreiben.

Was will Israel im Libanon erreichen?

Israel will erreichen, dass sich die Milizionäre der Hisbollah, die sein
Grenzgebiet bedrohen, wieder in das Gebiet nördlich des Litani-Flusses 30
Kilometer von der Grenze entfernt zurückziehen. Eine UN-Resolution schrieb nach
dem Krieg 2006 vor, dass Hisbollah-Kämpfer sich nicht südlich dieser Linie
aufhalten dürfen. Diese sind jedoch über die Jahre allmählich in das Grenzgebiet
zurückgekehrt, während UN-Friedenstruppen ohnmächtig zuschauten.

Der Druck auf den rechtskonservativen Ministerpräsidenten Benjamin
Netanjahu, zehntausenden israelischen Vertriebenen die Rückkehr in ihre
Heimatorte zu ermöglichen, wächst zusehends. Rechtsorientierte Israelis fordern
sogar, zu ihrem Schutz die im Jahre 2000 geräumte israelische Sicherheitszone im
Süden des Libanons wieder einzurichten.

US-Vermittlungsbemühungen gingen bislang ins Leere

Der US-Gesandte Amos Hochstein hat sich in dieser Woche bei Gesprächen in
Israel und dem Libanon um eine diplomatische Lösung des Konflikts bemüht -
bislang vergebens. Nasrallah sagte, die Hisbollah werde ohne eine Waffenruhe im
Gaza-Krieg ihre Angriffe auf Israel nicht einstellen. Die islamistische Hamas
weigert sich jedoch, ohne eine israelische Verpflichtung zu einem vollständigen
Kriegsende die Geiseln freizulassen, die noch in ihrer Gewalt sind. Israel
rechnet damit, binnen weniger Wochen den Einsatz in Rafah im Süden des
Gazastreifens zu beenden. Spätestens dann wird sich vermutlich entscheiden, ob
es im Konflikt mit der Hisbollah eine diplomatische Lösung oder einen Waffengang
gibt.

Nach Angaben der Zeitung "Haaretz" warnte Hochstein bei seinen Gesprächen
mit der israelischen Führung, ein Krieg mit der Hisbollah könne eine
großangelegte iranische Attacke auf Israel zur Folge haben.

Der ehemalige nationale Sicherheitsberater Israels, Ejal Hulata, sieht zudem die Gefahr einer nuklearen Aufrüstung des Irans im Windschatten des Gaza-Kriegs.
Mit Blick auf den iranischen Angriff auf Israel im April sagte er: "Es wäre ein
dramatischer Unterschied, wenn der Iran nukleare Fähigkeiten hätte, selbst wenn
er diese nicht einsetzen sollte. Allein die Fähigkeit, damit zu drohen." Viele
Experten sehen den Gaza-Krieg als nur eine Front in der größeren Konfrontation
Israels mit der vom Iran angeführten "Widerstandsachse", der auch Milizen im
Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen angehören.

Die Rolle des mächtigen Hisbollah-Verbündeten Iran

Die Hisbollah im Libanon gilt als bedeutendster Verbündeter Irans. Ein
regionaler Krieg könnte Teherans Staatsführung zwingen, ihre politische und
militärische Unterstützung zu intensivieren. Der Einfluss in Ländern wie dem
Libanon oder Syrien sei für die Islamische Republik "strategisch existenziell",
hieß es jüngst in einem Artikel der Denkfabrik "European Council on Foreign
Relations" (ECFR). Der Krieg in Gaza habe diese strategische Denkweise Irans
weiter verfestigt. Dennoch gilt ein direktes militärisches Eingreifen Irans in
den Konflikt als unwahrscheinlich. Angesichts der Wirtschaftskrise steht die
iranische Regierung auch innenpolitisch unter Druck. Ein Großteil der
Bevölkerung wirft der Führung vor, dringend benötigte Investitionen im eigenen
Land zu vernachlässigen und stattdessen Gelder in regionale Milizen zu lenken.

Der Iran verfolge die langfristige Strategie, "die Existenz Israels als
zionistischer Staat zu beenden", sagte Amos Jadlin, ehemaliger Chef des
israelischen Militärgeheimdienstes, zuletzt. "Er bereitet uns einen langen
Zermürbungskrieg vor, der den Menschen hier das Leben vergällen soll", meinte
er, "sodass das Volk hier nicht mehr leben will"./le/DP/mis

--- Von Sara Lemel, Amira Rajab und Arne Bänsch, dpa ---

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