07.07.2024 14:41:49 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Niedergang einer Volkspartei: Tories streiten über Zukunft

LONDON (dpa-AFX) - Für die Konservative Partei in Großbritannien geht es
nach der historischen Wahlniederlage ums Überleben. Offen tritt der
Richtungsstreit zutage, der die Tories bereits seit Längerem schwächt. Doch
wieder mehr in die politische Mitte rücken und dem jüngsten Rechtskurs
abschwören? Oder doch noch weiter nach rechts rücken und versuchen, den
Populisten und Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage einzufangen?

Am Montag will sich die stark dezimierte Fraktion erstmals treffen, schon
laufen sich mögliche Kandidaten warm. Der bisherige Parteichef Rishi Sunak macht
den Weg frei und tritt zurück.

Ende einer erfolgreichen Volkspartei?

Allerdings: Die Auswahl ist nach dem Wahldebakel nicht gerade groß. Gut ein
Dutzend Kabinettsmitglieder hat seine Sitze verloren. Die Partei, die britische
und europäische Geschichte geschrieben und lange Englands Schicksal geprägt hat,
mit etlichen Wahlsiegen eine der erfolgreichsten Parteien der westlichen
Geschichte, zerfällt vor aller Augen. Fast wirkt es wie der Abschied von einer
Volkspartei - ob und wie sie wiederkommt, scheint fraglich.

Als neuer Anführer der Tories kommen theoretisch 121 Personen infrage. So
wenige Konservative wie nie sitzen im neuen Parlament. Die Tory-blauen Flecken
muss man auf der Landkarte schon genau suchen. Und wird an manchen Stellen gar
nicht mehr fündig: In Wales konnten die Konservativen keinen einzigen Wahlkreis
gewinnen.

Mehrere Kandidaten im Gespräch

Im Gespräch sind unter anderem Ex-Innenminister James Cleverly und der
bisherige Sicherheits-Staatssekretär Tom Tugendhat, beide eher moderat, sowie
Cleverlys Vorgängerin Suella Braverman und Ex-Wirtschaftsministerin Kemi
Badenoch vom rechten Flügel. Ex-Finanzminister Jeremy Hunt verzichtet.

Mark Garnett ist sicher, dass die Abstimmung das Ende der Konservativen
Partei bedeutet, wie man sie kennt. "Was von der Partei übrig ist, kann
unmöglich vereint bleiben", sagt der Politologe von der Universität Lancaster im
Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Eine zentrale Rolle spielt einer, der gar kein Tory-Mitglied ist: Nigel
Farage. Der Rechtspopulist, maßgeblicher Antreiber des Brexits und nach eigenen
Angaben Freund von Ex-US-Präsident Donald Trump, hat den Konservativen mit
seiner Partei Reform UK etliche Stimmen am rechten Rand abgejagt.

Nicht nur Braverman wirbt kaum verhohlen für eine Aufnahme von Farage in die Tory-Partei. Sie glaubt, dass die Konservativen ihre traditionellen Werte
aufgegeben und damit erst den Wahlerfolg von Reform ermöglicht haben. Viele
traditionelle Tory-Wähler stimmten diesmal für die Rechtspopulisten.

Doch Farage will gar nicht. "Diese Partei ist gespalten", sagt er. "Die
Tories nennen sich eine Volkskirche, aber es ist eine Volkskirche ohne
gemeinsame Religion." Der 60-Jährige will das rechte Lager in einer neuen
Bewegung vereinen. Letzteres findet in Teilen der Konservativen Partei ebenso
Anklang wie Farages harter Kurs gegen Migration.

Moderater Flügel will zurück in die Mitte

Der moderate Flügel - ähnlich groß, aber deutlich leiser - propagiert genau
das Gegenteil. Der ehemalige Justizminister Robert Buckland warnt mit deutlichen
Worten vor einem Rechtsruck. Wahlen würden in der Mitte gewonnen. Diese Mitte
aber hatten die Tories bereits unter Ex-Premierminister Boris Johnson stückweise
aufgegeben, Sunak rückte die Partei noch weiter nach rechts. Etwa mit dem
umstrittenen Vorhaben, irreguläre Migranten ungeachtet ihrer Herkunft nach
Ruanda abzuschieben. Der neue Premierminister Keir Starmer stoppt dieses
"Mätzchen".

Die Tories können nur verlieren, glaubt Experte Garnett. "Wenn sie einen
gemäßigten neuen Anführer wählen, werden die Rechtskonservativen zu Reform UK
überlaufen. Wenn sie einen rechtsgerichteten Populisten wählen, werden die
Gemäßigten entweder zu den Liberaldemokraten oder zu Labour wechseln." Zumal
Starmer eine einigende Figur sei.

Kommt Boris Johnson zurück?

Eine Fortsetzung des Rechtskurses dürfte Populisten wie Boris Johnson wieder anlocken. Der Ex-Premier war bei der Wahl nicht angetreten. Kommentatoren
vermuten, der Blondschopf mit der politischen Spürnase wolle nicht mit dem sich
seit langem abzeichnenden Debakel in Verbindung gebracht werden.

Jetzt liegt die Partei am Boden, der an der Basis noch immer beliebte
Johnson könnte sich als eine Art Retter zur Verfügung stellen. In seiner Kolumne
in der Boulevardzeitung "Daily Mail" stellt er schon einmal einen 10-Punkte-Plan
vor. Sein Vertrauter Jacob Rees-Mogg fasst die Sicht vieler Vertreter vom
rechten Flügel so zusammen: "Nigel Johnson wäre ein guter Kandidat." Dass die
Egozentriker Johnson und Farage aber gemeinsame Sache machen, kann sich aber
bisher niemand vorstellen./bvi/DP/he

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