05.07.2024 06:05:43 - dpa-AFX: VERMISCHTES: Das EEG entschlüsselt seit 100 Jahren unser Gehirn

JENA (dpa-AFX) - Ein Jenaer Psychiater zeichnete vor 100 Jahren zum ersten
Mal die elektrische Aktivität des menschlichen Gehirns auf und schuf damit auch
die Grundlage für heutige Hirnimplantate. Dem Erfinder Hans Berger gelang am 6.
Juli 1924 eine Elektroenzephalografie (EEG). Das Verfahren hat nicht nur die
Erkenntnisse über das Gehirn revolutioniert, sondern auch vielfältige
Anwendungen im klinischen Alltag ermöglicht, etwa bei der Diagnose von Epilepsie
und ADHS. Derzeit schreitet die Entwicklung dank Künstlicher Intelligenz (KI)
rasant voran. Können wir sogar bald Gedanken lesen?

Elektroden, Kabel, viele Kurven: Wie alles funktioniert

Für den Laien sieht ein EEG-Aufbau etwas befremdlich aus: An einen Kopf
werden viele kleine Metallplättchen - sogenannte Elektroden - geklebt und mit
einem Computer verkabelt. Sie sollen die elektrische Aktivität des Gehirns
aufzeichnen. Auf einem Bildschirm erscheinen Kurven in bestimmten Mustern, das
Elektroenzephalogramm - ebenfalls EEG genannt.

Die Muster lassen sich zum einen aktiv beeinflussen, etwa durch das
Schließen der Augen. Zum anderen können Fachleute je nach Verlauf der Linien
auch Krankheiten wie Epilepsie erkennen. "Man braucht viel Expertise, um Böses
von Sachen zu unterscheiden, die nur böse aussehen, aber nicht böse sind",
erklärt der Leiter des Epilepsie-Zentrums am Klinikum der Universität München,
Jan Rémi.

Um etwa Epilepsie zu diagnostizieren, könne das EEG nach einem Anfall
angelegt werden. Zeigten die Kurven ein bestimmtes Schema, habe der Patient
Epilepsie. Schlage medikamentöse Behandlung nicht an, könne man mit einem EEG
auch die Gehirnregionen bestimmen, von denen die Epilepsie ausgehe - und diese
im Zweifel entfernen.

Können wir bald Gedanken lesen?

Für die endgültige Diagnose werde das menschliche Auge immer wichtig
bleiben, ist Rémi überzeugt. Aber mithilfe Künstlicher Intelligenz ließen sich
künftig etwa charakteristische Linien vorfiltern, die dann noch überprüft werden
müssten. EEG-Signale mit ihren Hunderten und Tausenden von Wellen böten zig
Analysemöglichkeiten, die künftig mithilfe von KI besser ausgewertet werden
könnten. "Vom Gedankenlesen sind wir noch weit entfernt. Aber ich glaube schon,
dass man in den nächsten Jahren erkennen kann, ob jemand lügt oder nicht."

Für den EEG-Forscher Gyula Kovács von der Universität Jena ist der Einzug
der KI "die wichtigste Entwicklung der letzten paar Jahre für die Analyse von
EEG-Daten". Darüber ließen sich bestimmte Teile des Bewusstseins sichtbar
machen. "Das war früher absolut nicht möglich." Zum Beispiel lasse sich
nachverfolgen, ob jemand eine Serie gesehen habe oder nicht, oder ob jemand
einen Menschen wiedererkenne. Da müsse man auch die ethische Frage stellen, wie
weit man die Technik überhaupt anwenden wolle.

Forscher wollen Gedankenkraft nutzbar machen

Auch die Technologie der Gehirnimplantate-Firma Neuralink des US-Milliardärs Elon Musk baut auf der Logik der Elektroenzephalografie auf: Hier sollen 1024
Elektroden die Signale des Gehirns so auffangen, dass Menschen nur durch ihre
Vorstellungskraft etwa einen Computer-Cursor bedienen können. Im Januar bekam
der erste Patient einen solches Hirnimplantat. Neuralink räumte zuletzt Probleme
ein - so hätten sich einige Elektroden wieder gelöst.

In der Vergangenheit hatte es auch schon US-Studien gegeben, in denen
Menschen etwa eine Handprothese mit Kraft ihrer Gedanken bewegen konnten, wie
der Neurowissenschaftler Stefan Schweinberger von der Universität Jena sagt.
Diese Einzelstudien seien aber sehr aufwendig und invasiv. "Das ist sicher kein
Verfahren, das in der Breite jetzt oder in absehbarer Zukunft verfügbar sein
wird."

Berger: Erfinder, Zweifler und strittige Figur

Als der Psychiater Hans Berger am 6. Juli 1924 - einem Sonntag - in seinem
Labor in Jena zum ersten Mal die elektrische Aktivität eines menschlichen
Gehirns aufzeichnete, war all das noch Zukunftsmusik. Schon knapp 50 Jahre zuvor
waren solche Aufzeichnungen bei Tieren gelungen. Der als pedantisch und
kritikscheu geltende Berger haderte dennoch lange mit seinen ersten Befunden und
ging erst 1929 damit an die Öffentlichkeit. Ein Jahr zuvor hatte er noch
resigniert in seinem Tagebuch notiert: "Ich habe mehrere Jahre an dem
vermeintlichen EEG gearbeitet. Was nun? EEG aufgeben!"

Mitte der 1930er-Jahre fanden seine Erkenntnisse aber Anerkennung und
namhafte Befürworter wie den britischen Neurophysiologen und Nobelpreisträger
Edgar Douglas Adrian. Berger widmete sich den verschiedenen Anwendungsfällen
seiner Entdeckung, wie etwa EEG-Veränderungen im Schlaf, bei Hirntumoren oder
auch bei Epilepsie.

In der Zeit des Nationalsozialismus war Berger SS-Fördermitglied und wirkte
an Zwangssterilisationen mit. Die nach ihm benannte Klinik für Neurologie in
Jena legte 2022 den Namen Hans-Berger-Klinik ab.

EEG bei der Behandlung von ADHS und anderen Diagnosen

Was bleibt, ist ein Goldstandard in einigen klinischen Bereichen: Neben der
Diagnose werde das EEG beispielsweise auch verwendet, um die Tiefe einer Narkose
zu erkennen, erklärt Mediziner Rémi. "Das hilft uns, Narkosemittel zu sparen."
Auch die Schwere von Hirnschäden lasse sich beurteilen, bis hin zur Feststellung
des Hirntods. Im Schlaflabor werde das EEG verwendet, um Schlafphasen
voneinander zu unterscheiden.

Bergers Erfindung bietet darüber hinaus ein weites Forschungsfeld, das auch
an seiner alten Wirkungsstätte in Jena vorangetrieben wird. Dort möchten
Forscher mittels EEG herausfinden, ob Autisten über sogenanntes Neurofeedback
bestimmte Gehirnaktivitäten unterdrücken können.

Die Patienten können dabei ihre Hirnaktivität quasi auf einem Bildschirm
sehen und trainieren, sie willentlich zu verändern. Konkret geht es um eine
spezifische Hirnaktivität, die üblicherweise in bestimmten Situationen
heruntergeregelt ist, bei Autisten aber nicht. Bei den Patienten werden
Elektroden auf der Kopfhaut platziert und sie bekommen einen Film zu sehen, der
nur dann störungsfrei weiterläuft, wenn diese Hirnaktivität unter einer
bestimmten Schwelle bleibt.

Bei der Behandlung von ADHS-Patienten wird die Technik schon länger
verwendet, auch bei Schlaganfall-, Tinnitus- und Long-Covid-Patienten gibt es
erste Versuche./dhu/DP/zb

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