23.06.2024 14:46:27 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Parlamentswahl in Frankreich: Hält die Mauer gegen rechts?

PARIS (dpa-AFX) - Kämpferisch und entschlossen demonstrierten in Frankreich
zuletzt Hunderttausende vor der Parlamentswahl gegen die Rechtspopulisten um
Marine Le Pen. Auch bei weiteren vor dem Urnengang geplanten Streiks und
Demonstrationen wollen sich etliche Menschen gegen die Rechtsnationalen stellen,
die die Europawahl in Frankreich klar gewonnen haben und auf dem Vormarsch sind.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hofft, ihnen mit dem neuen Votum
Einhalt zu gebieten. Dabei setzt er wohl maßgeblich auf den vielbeschworenen
Schutzwall gegen die extreme Rechte. Doch das Bild der Massen auf der Straße
gegen rechts darf nicht trügen. Die Brandmauer hat längst zu bröckeln begonnen.

Eine zerstrittene Linke, eine Rechte als Schreckgespenst und in der Mitte
einzig Macron als wählbare Alternative - so hatte sich der Staatschef die Wahl
wohl vorgestellt. Nur: das Bild sieht anderthalb Wochen vor der ersten Wahlrunde
ganz anders aus. Das linke Lager hat im Eiltempo ein Bündnis geschmiedet. Auch
die Konservativen nahmen Macrons ausgestreckte Hand nicht an. Dieser hatte im
Grunde das gesamte politische Spektrum - abgesehen vom rechtsnationalen
Rassemblement National (RN) und der Linkspartei La France Insoumise - dazu
aufgerufen, gemeinsame Sache zu machen - gegen die extremen Kräfte.

Das Kalkül des Staatschefs könnte es sein, auf eine Zusammenarbeit in der
zweiten Wahlrunde zu setzen, zumindest informell, um die Rechtsnationalen zu
verhindern. Denn das Unterhaus wird im Mehrheitsrecht gewählt. Kaum ein
Abgeordneter kommt in der ersten Wahlrunde über die erforderlichen 50 Prozent
von einem Mindestsatz der eingeschriebenen Wähler. In der zweiten Runde gewinnt
in einer Stichwahl dann die Person im Wahlkreis mit den meisten Stimmen. Macron
dürfte hoffen, dass alle demokratischen Kräfte dann gegen die Wahl eines
RN-Kandidaten in Runde zwei aufrufen, die Brandmauer gegen rechts zur Wirkung
kommt.

Dieses Bündnis über Parteigrenzen hinweg war in Frankreich lange Zeit fest
verankert. Es verhalf dem Konservativen Jacques Chirac bei der
Präsidentschaftswahl 2002 in der Endrunde gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le
Pen zum Sieg. Auch Macron profitierte bei den Wahlen 2017 und 2022 von den
Stimmen derer, die Marine Le Pen auf keinen Fall im Élyséepalast sehen wollten
und daher - mitunter zähneknirschend - ihn wählten.

Doch solide ist die Brandmauer längst nicht mehr. Während Jean-Marie Le Pen
lediglich 17,79 Prozent der Stimmen einholte, kam seine Tochter Marine 2017 auf
33,9 Prozent. Vor zwei Jahren landete sie mit 41,45 Prozent nur relativ knapp
hinter Macron. Ein Grund dafür ist, dass Macron viele Wähler aus dem linken
Spektrum bitter enttäuscht und desillusioniert hat. Ein anderer ist der
allgemeine Rechtsruck in Europa und die erfolgreiche Wandlung Le Pens.

Denn während Le Pen vor wenigen Jahren noch als rechter Haudegen auftrat,
zeigt sie sich mittlerweile betont sanft. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf
sagte sie gar, sie wolle Frankreich wie eine Mutter führen. Erfolgreich hat sie
das RN "entteufelt" und von dem radikalen Image gelöst, das mit ihrem Vater und
dessen Holocaust-Verharmlosung einherging. Längst hat sie sich und ihre Partei
bis weit in die bürgerliche Mitte wählbar gemacht und das Schreckgespenst des
Rassemblement National für viele verpuffen lassen.

Wie salonfähig das RN mittlerweile ist, sieht man auch darin, dass der Chef
der konservativen Républicains, Éric Ciotti, kurzerhand ein Bündnis mit ihnen
für die Parlamentswahl ankündigte. Ein großer, empörter Teil der einstigen
Volkspartei versucht nun, Ciotti als Vorsitzenden loszuwerden, denn eine Allianz
wäre ein Dammbruch.

Und noch ein weiteres Problem gibt es, sollte Macron wirklich auf die
Brandmauer setzen. Umfragen sehen sein Lager zurzeit hinter RN und dem linken
Lager nur auf Platz drei. Die Frage wird also auch sein, in wie vielen
Wahlbezirken die Mitte-Kandidaten überhaupt in die zweite Wahlrunde einziehen,
und ob Macron für den Kampf gegen RN im Zweifel auch selbst bereit ist, gegen
seine Überzeugungen zur Wahl eines linken Kandidaten aufzurufen. Das zumindest
könnte man als nötige Konsequenz sehen, wenn er mit Blick auf die nächste
Präsidentschaftswahl, bei der er nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf,
sagt: "Ich will genau nicht 2027 die Schlüssel der Macht an die Rechtsextreme
geben."/rbo/DP/he

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