04.07.2024 06:30:34 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Große Erwartungen: Was die neue britische Regierung leisten muss

LONDON (dpa-AFX) - Seit 14 Jahren regieren in Großbritannien die
Konservativen. Genauso lange wartet die Labour-Partei auf eine Gelegenheit,
wieder an die Macht zu kommen. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass es noch in
dieser Woche so weit sein wird. Heute wählen die Briten ein neues Parlament.

Doch die Aufgaben, die Labour-Chef Keir Starmer und sein künftiges Kabinett
erwarten, sind enorm. Dass der Wunsch nach Wandel bald Frustration über zu
langsame Fortschritte weichen könnte, sei leicht zu erkennen, sagt
Politikprofessor Anand Menon vom King's College in London der Deutschen
Presse-Agentur: "Labour sieht sich massiven Herausforderungen gegenüber."

Die große Wohnungsnot

In Großbritannien gibt es viel zu wenig Wohnraum. Der Denkfabrik Institute
of Economic Affairs zufolge müssten allein im größten Landesteil England 3,4
Millionen Wohneinheiten geschaffen werden, um den EU-Durchschnittswert im
Verhältnis zur Bevölkerung zu erreichen.

Als einer der Hauptgründe für die Knappheit gilt ein kompliziertes und
restriktives Planungsrecht, das Anwohner, die sich gegen den Bau neuer
Wohnimmobilien wehren, bevorzugt. Zudem ist gerade im Umkreis größerer Städte
viel potenzielles Bauland als "green belt" (grüner Gürtel) geschützt.

Das Planungsrecht zu reformieren, gilt als eine der ersten Maßnahmen, die
Labour angehen will. Doch bis das eine spürbare Erleichterung bringen wird,
dürften Jahre vergehen.

Der am Boden liegende Gesundheitsdienst

Der National Health Service (NHS) gilt als eine der größten Errungenschaften des britischen Sozialstaats. Doch der NHS, der allen dauerhaft in Großbritannien
lebenden Menschen kostenlos zur Verfügung steht, ist chronisch unterfinanziert.

Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) zufolge lagen die Ausgaben im Gesundheitsbereich im Vereinigten
Königreich 2022 bei etwa 5500 US-Dollar pro Kopf. Zum Vergleich: In Deutschland
wurden 2022 pro Einwohner 8050 US-Dollar ausgegeben. Die Warteliste für
medizinische Eingriffe erreichte im vergangenen Jahr einen Rekord mit beinahe
7,8 Millionen Patienten.

Wie Labour mehr Geld in den Gesundheitsbereich stecken will, bleibt unklar,
denn die Kassen sind leer, wie auch Starmer stets betont. Auch hier dürfte es
Jahre dauern, bis spürbare Verbesserungen eintreten.

Die überfüllten Gefängnisse

Gewalt, Drogen und Ungeziefer: Die Verhältnisse in britischen Gefängnissen
sind haarsträubend. Immer härter ausfallende Urteile führten zu einer massiven
Überbelegung. Der Verband der Gefängnisdirektoren warnte kürzlich, die
Haftanstalten könnten "innerhalb von Tagen keinen Platz mehr haben".

Neben Überbelegung ist auch das Alter vieler Gebäude im britischen
Justizvollzug ein Problem. Noch immer werden Dutzende Gefängnisse in England und
Wales aus viktorianischer Zeit (1837-1901) betrieben.

Die einzig wirkungsvolle kurzfristige Maßnahme ist die vorzeitige
Haftentlassung Tausender Gefangener, wie sie bereits von der amtierenden
Regierung eingeführt wurde. Labour-Chef Starmer kündigte in einem BBC-Interview
kurz vor der Wahl an, die Praxis fortführen zu wollen.

Die hohe Zahl der Einwanderer

Eines der Hauptargumente für den EU-Austritt Großbritanniens war, die
Kontrolle über die eigenen Grenzen wiederzuerlangen. Doch der
Einwanderungsüberschuss kletterte im vergangenen Jahr auf eine Rekordzahl von
685.000 Menschen.

Trotz Fachkräftemangel in vielen Branchen, nicht zuletzt im
Gesundheitsbereich, wird das Thema Einwanderung immer wieder zum Politikum.
Brexit-Vorkämpfer und Rechtspopulist Nigel Farage behauptet, die Einwanderung
sei für Probleme wie die Wohnungsnot und die langen Wartelisten im
Gesundheitsdienst verantwortlich - und trifft bei vielen Menschen einen Nerv.

Zur regulären Einwanderung kommen Zehntausende irreguläre Migranten, die in
kleinen Booten jedes Jahr den Ärmelkanal in Richtung England überqueren. Trotz
großer Anstrengungen konnte die konservative Regierung von Premierminister Rishi
Sunak, der mit dem Slogan "Stop the Boats" geworben hatte, hier kaum Erfolge
vorweisen.

Das fehlende Wirtschaftswunder

Entscheidend für den Erfolg der nächsten Regierung dürfte sein, ob es ihr
gelingt, das Wirtschaftswachstum wieder in Gang zu bringen. Doch nach Ansicht
von Experten der Denkfabrik UK in a Changing Europe hat die Labour-Partei mit
ihren zurückhaltenden Plänen für eine Annäherung zur Europäischen Union den
wichtigsten Hebel für Wachstum bereits aus der Hand gegeben. Eine Rückkehr in
Binnenmarkt und Zollunion zu seinen Lebzeiten schloss der 61-jährige Labour-Chef
Starmer im Wahlkampf aus./cmy/DP/zb

--- Von Christoph Meyer, dpa ---

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