09.07.2024 09:03:14 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Landtagswahlen im Osten: 'Diese Wahlen könnten das Land verändern'

ERFURT/DRESDEN (dpa-AFX) - Kaum sind die Plakate zur Europawahl abgehängt,
rollt der nächste Wahlkampf an. Am 1. September wählen Thüringen und Sachsen
neue Landtage, drei Wochen später dann Brandenburg. Es sind drei Bundesländer,
die zusammen gerade mal halb so viele Einwohner haben wie Nordrhein-Westfalen.
Und doch sind nicht nur die Ampel-Parteien äußerst angespannt. "Diese Wahlen
könnten das Land grundsätzlich verändern", sagt der Rostocker
Politikwissenschaftler Wolfgang Muno. Fünf Gründe, warum das so ist.

1. Erstmals könnte die AfD in allen drei Ländern stärkste Kraft werden

Die AfD ist in allen drei Ländern in Umfragen Nummer eins: in Sachsen mit um die 30 Prozent, in Thüringen mit 28 Prozent und in Brandenburg mit 25 Prozent.
Solche Erhebungen sind mit so viel Abstand zur Wahl grundsätzlich mit Vorsicht
zu betrachten. Zudem ist in Sachsen die CDU fast gleich auf mit der
Rechtsaußenpartei. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass die AfD mit solchen
Werten erstmals einen Ministerpräsidenten stellen kann - solange keine andere
Partei mit ihr koaliert.

Trotzdem deutet sich ein Bruch an - oder aus Sicht des Soziologen Raj
Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz die nächste Etappe einer
Entwicklung, die schon vor zehn Jahren begann: "Populistische Parteien gewinnen
an Zuspruch, selbst Parteien mit einer relevanten rechtsextremistischen
Fraktion." Sogar über die Frage absoluter Mehrheiten müsse gesprochen werden.

Rechnerisch kann ein Stimmanteil von deutlich unter 50 Prozent für eine
absolute Mehrheit der Landtagsmandate reichen. Das gilt zum Beispiel, wenn nur
wenige Parteien ins Parlament kommen und mehrere andere knapp an der
Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Stand jetzt ist das im Fall der AfD nur Theorie.
Aber Kollmorgen sieht eine Zuspitzung im Vergleich zu den Wahlen 2019.
Einstellungen hätten sich vertieft und verfestigt, das Vertrauen in andere
Parteien sei weiter geschrumpft.

2. Einstige Volksparteien kämpfen gegen den Abstieg - und das BSW sahnt ab

"Wir haben es mit radikal veränderten Verhältnissen zu tun", sagt
Kollmorgen. "Das hat eine Relevanz für die ganze Bundesrepublik." So kämpfen in
Sachsen alle drei Ampel-Parteien in der Abstiegszone. SPD und Grüne lagen dort
zuletzt in Umfragen jeweils bei 5 bis 7 Prozent, die FDP bei 2. Die Linke, die
2019 noch 10,4 Prozent errang, hat nur noch 3 bis 4 Prozent. Dafür sahnt ein
Newcomer ab: Das erst im Januar gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht erreichte
in Sachsen im Juni Umfragewerte von 15 Prozent, in Thüringen sogar 21 Prozent.
Auch das BSW spricht Protestwähler an, gräbt dabei aber nicht der AfD das Wasser
ab, sondern der übrigen Konkurrenz. "Beide Parteien nehmen die seriösen Parteien
in den Schwitzkasten", sagt Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische
Bildung im bayerischen Tutzing.

3. Die Regierungsbildung - Hürde und Wagnis

Auch wenn die AfD nach jetzigem Stand nicht regieren kann: Einfluss nehmen
könnte sie trotzdem. Erreiche die AfD ein Drittel der Mandate oder mehr, hätte
sie eine Sperrminorität etwa bei der Entscheidung des Thüringer Landtags über
Neuwahlen oder bei der Besetzung von Richterposten, sagt Münch. Die AfD könnte
parlamentarische Prozesse noch mehr als bisher lähmen.

Das gilt auch indirekt, weil eine Regierungsbildung ohne die AfD sehr
schwierig wird. Dafür müssten sich sehr unterschiedliche oder sogar
gegensätzliche Parteien zusammenschließen. "Eine Koalition von CDU und BSW - ist
das denkbar?", fragt Kollmorgen. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik sind
beide Parteien weit voneinander entfernt, wie auch in der Einschätzung des
russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Solche Bündnisse wären neu,
vielleicht innovativ, "eigenartig in jedem Fall", sagt der sächsische Soziologe.
Nötig sei viel Fantasie, vielleicht seien Minderheitsregierungen eine Lösung.
"Das ist nicht mehr der westdeutsche Normalbetrieb", sagt Kollmorgen.

4. Der Osten ist 34 Jahre nach der Einheit sehr besonders

Ähnlich sieht es der Rostocker Politologe Muno: "In Ostdeutschland
entwickelt sich ein ganz anderes Parteiensystem." Die AfD sei in den westlichen
Bundesländern stark, aber eben nicht stärkste Kraft. Das BSW habe im Westen bei
der Europawahl einzig im Saarland die Fünf-Prozent-Hürde geknackt. "Das ist
natürlich eine politische Spaltung", sagt Muno. "Das Trennende wird sich
verstärken. Dann ist man vielleicht noch weniger geneigt, sich mit
Ostdeutschland auseinanderzusetzen."

Die Lage in den östlichen Ländern ist also besonders - wegen der
DDR-Vorgeschichte, wegen des traumatischen Umbruchs nach der Einheit, der
verbliebenen wirtschaftlichen Nachteile, wegen der geringeren Bindung an
Parteien, Kirchen, Vereine, an diesen Staat. Einerseits. Andererseits sehen
Experten hinter dem Unmut im Osten Entwicklungen, die der Westen genauso hat.
Das Gefühl des Abgehängtseins auf dem Land, wo Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser
und Einkaufsläden fehlen. Die Sorge über Migration und Sicherheit - das alles
beobachtet Münch auch in Bayern.

"Es wäre westdeutsche Arroganz, zu behaupten oder zu hoffen, diese
politische Entwicklung sei nur ein ostdeutsches Thema", sagt die Politologin.
Ihr Kollege Kollmorgen sieht es so: "Es ist ein Prozess, der im Osten schneller,
anders, radikaler läuft. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht auch den Westen
und damit die ganze Bundesrepublik erfassen kann."

5. Der Osten als Zukunftslabor

Der Rostocker Muno spricht von einem "Labor": Was dem Westen noch
bevorsteht, ist im Osten oft schon Realität - und dort wird erprobt, wie man
damit umgeht. Das gilt auch für die Frage, wie der Zulauf zu Protestparteien wie
AfD und BSW gebremst und das Zutrauen in das politische System stabilisiert
werden könnte. "Wie viele wir zurückgewinnen können, das wissen wir nicht
genau", sagt Muno. Ein Teil der Menschen wäre wohl zufriedener, wenn die
Ampel-Koalition in Berlin besser funktionieren würde. Viele Menschen hätten
jedoch viel grundsätzlichere Zweifel.

Kollmorgen sieht hinter der politischen Entwicklung eine "Verstörung
wichtiger Bevölkerungsgruppen", im Osten wie im Westen: "Sie erwarten keine
Lösungen mehr von denen, die am Ruder sind." Dieser Lösungsstau wiederum liege
nicht an der Dummheit der Akteure, sondern im Kern an der globalen Dimension der
Krisen: Klimawandel, Krieg, wirtschaftlicher Umbruch. "Diese Probleme fordern
unsere Gesellschaften substanziell heraus." Der erste Schritt wäre, das
deutlicher zu sagen, meint Kollmorgen. "Die Politik muss den Menschen
klarmachen, dass wir uns in einem großen Umbruchprozess befinden."/vsr/DP/mis

--- Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa ---

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