30.06.2024 14:06:45 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Ratspräsidentschaft - Orban will EU wieder "großartig machen"

BRÜSSEL/BUDAPEST (dpa-AFX) - "Make Europe Great Again" - mit diesem
abgewandelten Wahlkampf-Slogan des amerikanischen Ex-Präsidenten Donald Trump
als Motto übernimmt Ungarn an diesem Montag die EU-Ratspräsidentschaft. Auf
Deutsch bedeutet der Spruch so viel wie "Macht Europa wieder großartig". Ist das
Motto schon ein Hinweis darauf, was von der EU-Ratspräsidentschaft eines
rechtspopulistischen Viktor Orban zu erwarten ist?

Der ungarische Ministerpräsident gilt als einer der größten Störenfriede in
der EU. Immer wieder gerät Orban mit anderen Mitgliedstaaten aneinander und
blockiert wichtige Abstimmungen - zuletzt bei der Unterstützung für die von
Russland angegriffene Ukraine.

Orban hat eigene Sichtweise auf ungarische Demokratie

Zudem wurde Ungarn erst kürzlich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu
einer Geldstrafe von 200 Millionen Euro verurteilt, weil Budapest das
EU-Asylrecht missachtet hatte. Das stelle eine ganz neue und außergewöhnlich
schwere Verletzung von EU-Recht dar, hieß es. Der EuGH hat in früheren Urteilen
bereits wesentliche Teile des ungarischen Asylsystems für rechtswidrig erklärt.
Auch die Europäische Kommission wirft Ungarn seit Jahren vor, EU-Standards und
Grundwerte zu missachten und fror deswegen schon Fördermittel in Milliardenhöhe
für das Land ein.

Orban hingegen sieht sich unter anderem durch eine hohe Wahlbeteiligung in
Ungarn bei der Europawahl in seinem Politikkurs bestätigt. "Das zeigt, dass es
der ungarischen Demokratie auch gut geht, sie sagt vielen Dank, sie ist lebendig
und blüht, es gibt konkurrierende Akteure, es gibt Interesse, es gibt Menschen,
die eine Meinung haben, die sie äußern wollen, die sie zum Ausdruck bringen
wollen, die das öffentliche Leben beeinflussen wollen", sagte er Mitte Juni dem
ungarischen Fernsehsender M1.

Neue Rechtsaußenfraktion im EU-Parlament angestrebt

Um seinen Einfluss auszuweiten, formierte Orban unmittelbar vor der
Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft auch ein Bündnis mit populistischen
Parteien aus Österreich und Tschechien. Es soll die größte Rechtsaußenfraktion
im EU-Parlament werden. Zu der neuen Gruppierung "Patrioten für Europa" gehören
neben seiner Partei Fidesz schon mal die österreichische FPÖ und die
tschechische ANO. Abgeordnete aus mindestens vier weiteren EU-Ländern sind
nötig, um eine solche Fraktion gründen zu können.

Ungewohnte Rolle für Ungarn

Mit der Ratspräsidentschaft kommt Orban nun eine ungewohnte Rolle zu: Sein
Land wird bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Staaten vermitteln und
zahlreiche Ministertreffen leiten müssen. Zuletzt hatte Belgien diese Aufgabe -
alle sechs Monate wechselt der EU-Ratsvorsitz zwischen den 27 Mitgliedstaaten.
Bereits 2011 hatte Orbans Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft inne, ein Jahr nach
dem Regierungsantritt des Rechtspopulisten. Damals begann Orban, mit einer
Verfassungsänderung die Weichen für sein System zu stellen, das er 2014
"illiberale Demokratie" nannte. Es ist sein politisches Credo und Markenzeichen.

"Die Präsidentschaft bedeutet nicht, dass man der Chef von Europa ist. Die
Präsidentschaft bedeutet, dass Sie derjenige sind, der den Kompromiss machen
muss", gab der scheidende belgische Ministerpräsident Alexander De Croo seinem
Budapester Kollegen zuletzt in Brüssel mit auf den Weg. In einer Position zu
sein, in der man einen Kompromiss eingehen müsse, sei eine interessante
Situation. "Ich kann es Herrn Orban auf jeden Fall empfehlen."

Kaum neue Gesetzesinitiativen erwartet

Fragt man EU-Diplomaten, hält sich die Begeisterung über den ungarischen
Ratsvorsitz zwar in Grenzen, doch eine große Gefahr für die EU sieht kaum
jemand. Das liegt am Zeitpunkt: Zwar ist die Ratspräsidentschaft auch dafür
verantwortlich, die Gesetzgebung der EU voranzutreiben. Allerdings müssen sich
Parlament und Kommission kurz nach der Europawahl erst finden. Viele neue
Gesetzesinitiativen sind daher in dieser Phase nicht zu erwarten.

Budapest kündigte bereits an, den Fokus auf die wirtschaftliche
Wettbewerbsfähigkeit der EU legen zu wollen. Außerdem soll illegale Migration
besser bekämpft werden - unter anderem durch Abkommen mit Drittstaaten.

Auch der FDP-Abgeordnete im Europäischen Parlament, Moritz Körner, rechnet
damit, dass Orban hinsichtlich der EU-Gesetzgebung "relativ wenig Unheil
anrichten" kann. "Eingefrorene ungarische Gelder freigeben kann die
Ratspräsidentschaft auch nicht", sagt er. "Medial und diplomatisch sind aber
ungarische Alleingänge leider möglich, sowohl gegenüber (Russlands Präsidenten
Wladimir) Putin als auch gegenüber Trump, die die EU in Verlegenheit bringen
könnten."

"Budapest entscheidet, worüber gesprochen wird"

Körner moniert zudem, dass es "an Peinlichkeit für die EU kaum zu
überbieten" sei, dass Ungarn die Gespräche über Fragen der Rechtsstaatlichkeit
im nächsten halben Jahr im Rat moderieren werde. Diesen Punkt sieht der grüne
EU-Abgeordnete Daniel Freund geradezu als "Ironie". Anders als andere EU-Staaten
habe Ungarn das Thema Rechtsstaat nicht auf seine Prioritätenliste für die
Ratspräsidentschaft gesetzt. Man habe es mit der "korruptesten Regierung in der
EU" zu tun.

Freund bereitet vor allem Sorgen, dass Ungarn als Ratspräsident die
Tagesordnungen aller Treffen bestimme. Budapest entscheide damit, worüber
gesprochen wird und worüber nicht. Und dass Orban seinen Slogan für die
Ratspräsidentschaft Trumps Losung nachempfunden habe, suggeriere unliebsame
Parallelen. "Man kann erraten, auf welcher Seite er (Orban) steht", betont
Freund./svv/DP/nas

--- Von Stella Venohr und Kathrin Lauer, dpa ---

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