21.05.2024 15:23:01 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 2: Viel mehr antisemitische Taten in Deutschland seit 7. Oktober

(neu: Zitate aus Pressekonferenz)

BERLIN (dpa-AFX) - Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat es in Deutschland einen massiven Anstieg politisch motivierter Straftaten im
Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt gegeben. Die Zahl der polizeibekannten
Taten aus diesem Kontext betrug mit 4369 im vergangenen Jahr mehr als das
Siebzigfache der 61 Delikte des Vorjahrs, wie aus der am Dienstag in Berlin von
Bundesinnenministerium und Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlichten Statistik
zur politischen Kriminalität hervorgeht. "Seit dem 7. Oktober haben wir eine
völlig andere Situation", sagte BKA-Chef Holger Münch.

Insgesamt 1927 dieser Taten gelten als antisemitisch, die allermeisten davon wurden ab dem 7. Oktober begangen. Mehr als die Hälfte der knapp 4400 Taten
ordnet die Polizei dem Bereich "ausländische Ideologie" zu. Sie sieht also
Anhaltspunkte dafür, dass eine aus dem Ausland stammende nichtreligiöse
Ideologie entscheidend für die Tat war. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD)
sprach von "widerwärtigem Judenhass".

Neuer Höchststand

Die Zahl der polizeibekannten politisch motivierten Straftaten hat mit 60
028 Delikten 2023 den höchsten Stand seit der Einführung der Statistik 2001
erreicht, mit einem leichten Zuwachs von weniger als 2 Prozent im Vergleich zum
Vorjahr. Fast die Hälfte davon ist rechts motiviert. "Der Rechtsextremismus
bleibt die größte extremistische Bedrohung für unsere Demokratien und die
Menschen in unserem Land", betonte Faeser.

In 3561 der mehr als 60 000 Fälle handelt es sich um Gewalttaten, knapp 12
Prozent weniger als 2022. Es handelt sich bei der Statistik zur politisch
motivierten Kriminalität um eine Eingangsstatistik, das heißt Taten werden dann
erfasst, wenn sie der Polizei bekannt werden
- es gibt also ein Dunkelfeld. Mehrfachzählungen sind möglich, wenn
Delikte in mehr als eine Kategorie (Phänomenbereich) fallen.

Propaganda, Sachbeschädigungen, Beleidigungen

Den Löwenanteil der Straftaten machten mit einem Drittel Propagandadelikte
aus, also zum Beispiel das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger
Organisationen. Das können etwa Abzeichen wie der SS-Totenkopf sein oder
Parolen. Auf Platz zwei folgten Sachbeschädigungen (15,50 Prozent), gefolgt von
Beleidigungen (13,95 Prozent) und Volksverhetzungen (12,77 Prozent). Danach
kommen Nötigungen und Bedrohungen sowie Verstöße gegen das Versammlungsrecht.

Tatort Internet

Erheblich angestiegen ist die Zahl der im oder mit Hilfe des Internets
begangenen politisch motivierten Straftaten auf 15 488 - eine Zunahme um 60,08
Prozent. Eine sprunghafte Zunahme gab es insbesondere in den Bereichen religiöse
sowie ausländische Ideologie. Den größten Anteil machten hier allerdings die
rund 7000 Taten aus dem rechten Spektrum aus.

Weniger Gewalttaten - aber mehr Opfer mit Gesundheitsschäden

Die Zahl polizeibekannter politisch motivierter Gewalttaten ist um fast 12
Prozent gegenüber 2022 gesunken. Die 1270 Taten aus dem rechten Spektrum machen
hier den Großteil aus, gefolgt von 916 Taten aus dem linken Spektrum. "In der
linksextremistischen Szene sind die Hemmschwellen gesunken, mit äußerster
Brutalität politische Gegner und Polizeibeamte im Einsatz zu attackieren", sagte
Faeser.

Zu den Gewalttaten gehören Körperverletzungen (die allermeisten aus rechten
Motiven), aber auch 17 versuchte und drei vollendete Tötungsdelikte.

Insgesamt 1759 Menschen und damit mehr als im Vorjahr (plus 5,96 Prozent)
haben durch politisch motivierte Gewalt einen gesundheitlichen Schaden
davongetragen. Die meisten Betroffenen (714 Personen) wurden Opfer einer Tat aus
rechten Motiven - zwei pro Tag, wie Faeser vorrechnete.

Mehr Hass auf vermeintlich Fremde

Deutlich zugelegt (um 47,63 Prozent) hat die Hasskriminalität mit insgesamt
17 007 Fällen. Gemeint sind Taten, bei denen jemand aus Vorurteilen gegen
bestimmte Gruppen gehandelt hat.

Dabei kann eine Tat mehrfach in der Statistik auftauchen, wenn die Polizei
von mehr als einem Motiv ausgeht. Die weitaus größte Gruppe bilden mit 15 087
"fremdenfeindliche" Taten, die meist in den Phänomenbereich rechts fallen. Die
Statistik führt getrennt auch "ausländerfeindliche" Motive an, hier geht es
gezielter um die tatsächliche oder vermutete Nationalität. Ebenfalls weit
verbreitet sind antisemitische und rassistische Motive.

Staat und Religion als Ziele

Straftaten gegen Religionsgemeinschaften haben sich auf 7029 mehr als
verdoppelt, meistens traf es dabei religiöse Repräsentanten. Um mehr als ein
Viertel ist hingegen die Zahl der Taten gegen den Staat und seine Vertreter
gesunken, auf 15 050. Doch so erfreulich, wie es den Anschein hat, ist diese
Entwicklung nicht, denn zugleich hat die Zahl der Delikte gegen Menschen, die
sich politisch engagieren oder ein staatliches Amt ausüben, erheblich zugenommen
(um 29,12 Prozent auf 6508). "Die Betroffenen werden bedroht, ihre Büros
angegriffen, ihre Wohnungen belagert, ihr privates Eigentum beschädigt", sagte
Faeser, die von einer "Gewaltspirale" sprach. Münch sagte, mit der
bevorstehenden Europawahl sowie Landtags- und Kommunalwahlen sei von steigenden
Fallzahlen auch in den nächsten Monaten auszugehen.

Die politische Motivation bleibt unklar, denn die allermeisten Taten fallen
in den Bereich "sonstige Zuordnung". Das heißt, die Polizei konnte sie weder
rechts oder links noch bei ausländischer oder religiöser Ideologie verorten. Die
Zahl der Delikte gegen die Polizei, auch die der Gewaltdelikte, ist gesunken.

Motiv Klima- oder Umweltschutz

Die Aktionen von Gruppierungen wie der Letzten Generation - die ihre
Straßenblockaden inzwischen aufgegeben hat - schlagen sich auch in der Statistik
nieder. Insgesamt 3303 Taten aus den Feldern Klima oder Umweltschutz zählte die
Polizei 2023, fast eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Mehr als drei Viertel
der Delikte ordnete sie dem linken Spektrum zu. Häufig ging es um
Sachbeschädigungen und Nötigung oder Bedrohung.

Religiös motivierte Straftaten

Die Zahl der Taten aus dem Bereich religiöse Ideologie hat sich mehr als
verdreifacht auf 1458 Delikte. Häufig geht es um Volksverhetzung, die Androhung
von Straftaten oder Sachbeschädigungen. Die meisten der 94 Taten "mit
Terrorismusqualität" fielen ebenfalls in diesen Bereich.

BKA und Innenministerium schreiben von einer "anhaltend hohen
Gefährdungslage durch den islamistischen Extremismus/Terrorismus". Die
Bundesrepublik stehe unverändert "im unmittelbaren Zielspektrum terroristischer
Organisationen" wie des Islamischen Staats (IS) oder Al-Kaida und deren
Ablegern. Die "anhaltend hohe Gefahr" für dschihadistisch motivierte Gewalttaten
bestehe daher weiterhin fort. Man habe es derzeit vor allem mit Einzeltätern
oder kleinen Gruppen zu tun, deren Taten oftmals von Terrorgruppen für ihre
Propaganda vereinnahmt worden seien. "Zusätzlich tatmotivierend könnten die
aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten wirken, die dazu geeignet sind, eine hohe
Gefährdungsrelevanz auf die Sicherheitslage in Deutschland zu entfalten." Man
habe die islamistische Szene im Visier, betonte Faeser. "Unsere
Sicherheitsbehörden haben auch in den letzten Monaten mehrfach frühzeitig
zugeschlagen, um Anschläge zu verhindern."

Corona kaum noch ein Thema

Mit dem Wegfall der Corona-Auflagen haben sich politisch motivierte
Straftaten in diesem Zusammenhang weitgehend erledigt. Die Polizei registrierte
im vergangenen Jahr 1662 Delikte nach 13 988 Taten im Jahr davor.

Die Aufklärungsquote

Etwas weniger als die Hälfte der im Vorjahr erfassten Straftaten (46,85
Prozent) konnte aufgeklärt werden, bei den Gewalttaten lag die Quote mit 63,35
Prozent höher. Als aufgeklärt zählen nur Fälle, bei denen es bis zum 31. Januar
des Folgejahres mindestens einen namentlich bekannten Tatverdächtigen
gibt./hrz/DP/ngu

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