15.05.2024 06:18:11 - dpa-AFX: VERMISCHTES/Oft fließen Tränen: Zöliakie bei Kindern

DORTMUND/DÜSSELDORF (dpa-AFX) - Jan Jonathan ist zehn Jahre alt und hält
schon mehr als sein halbes Leben lang tagtäglich konsequent eine Diät ein,
verzichtet auf viel Leckeres. Was für die Freunde normal ist, muss sich der
Fünftklässler als Zöliakie-Erkrankter oft verkneifen. Manchmal träumt der Junge
ziemlich verzweifelt von Döner oder Eisdiele - alles tabu für ihn. Sobald er
etwas zu sich nimmt, in dem Gluten enthalten ist, drohen ihm schlimme
Bauchschmerzen, Durchfall, Erbrechen. Zöliakie ist keine Allergie, sondern eine
chronische und lebenslange Autoimmunerkrankung. Unbehandelt kann sie starke
Beschwerden auslösen, bei Kindern und Jugendlichen schwere Folgen wie
Wachstumsverzögerungen, Gedeih- und Entwicklungsstörungen haben, wie Experten
zum Welt-Zöliakie-Tag am 16. Mai betonen.

Kinder-Gastroenterologe Jens Berrang vom Klinikum Dortmund checkt Jan
Jonathan gründlich durch. Das Kind lässt sich Blut abnehmen, ohne mit der Wimper
zu zucken. Es ist bei Weitem nicht das erste Mal. "Manchmal ist es schon
schlimm, wenn die anderen etwas Besseres zu essen haben", erzählt der Junge dem
Mediziner. In die Schul-Mensa kann er nicht mitgehen. Denn: Das Klebereiweiß
Gluten steckt in Getreidearten wie Weizen, Hafer, Gerste, Dinkel oder Roggen -
und ist versteckt auch in ganz vielen Lebensmitteln und Gerichten enthalten. Und
schon kleinste Mengen sind unverträglich. Tückisch. Wenn ihr Sohn Freunde
besucht, auf Klassenfahrt geht oder zu Geburtstagen eingeladen ist, geben sie
ihm glutenfreies Essen mit, erzählen seine Eltern Valentina und Robert. Sie
haben sich von einer Ernährungsberaterin schulen lassen, daheim alles
umgestellt.

Etwa eine Person unter hundert Menschen ist betroffen

Nach neueren Untersuchung ist laut Zöliakie Gesellschaft (DZG) davon
auszugehen, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung betroffen ist. Hinzu komme
noch eine hohe Dunkelziffer. Viele Betroffene mit untypischen oder nur geringen
Symptomen wüssten nicht von ihrer Autoimmunkrankheit. Der Ausbruch der
Erkrankung ist in jedem Lebensalter möglich. Im Kindesalter bleibt sie nach
DZG-Einschätzung wegen manchmal schwacher Symptome jahrelang oder sogar
jahrzehntelang unentdeckt. Laut Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)
erkranken Menschen häufig im Alter zwischen ein und acht Jahren oder dann später
zwischen 20 und 50 Jahren. Der Dortmunder Mediziner Berrang sagt: "Bei manchen
bricht es mit fünf Jahren aus, bei manchen mit 35 - wir wissen nicht, warum das
so ist." In seine gastroenterologische Ambulanz kommen viele Kinder im
Grundschulalter.

Es gibt zahlreiche Symptome und sie können unspezifisch sein

Anzeichen für Zöliakie können Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Erbrechen sein, aber auch Gewichtsverlust und chronische Müdigkeit. Es gebe
Patienten mit erhöhten Leberwerten, kreisrundem Haarausfall, chronischen
Kopfschmerzen oder Migräne, erläutert die DZG. Schon Gluten-Kleinstmengen führen
zu einer Entzündung in der Darmschleimhaut. Der Körper bekämpft das Gluten,
bildet Abwehrstoffe dagegen - und diese Antikörper greifen die Struktur des
Dünndarms an, es kann zu einer Reihe von Problemen kommen. Auf Dauer kann die
Dünndarmoberfläche so stark abnehmen, dass nicht mehr genug Nahrungsbestandteile
vom Körper aufgenommen werden können und Mangelerscheinungen auftreten,
erläutert der Kinderärzte-Berufsverband.

Jan Jonathan habe sich schon mit vier Jahren tagelang mit extremen
Bauchschmerzen auf dem Boden gewälzt, schildert seine Mutter. Typisch sind auch
ein dicker Blähbauch, klebriger Stuhl, starker Durchfall. Aber nicht immer sind
die Symptome so schwer und offensichtlich, sie kommen viel häufiger unspezifisch
daher - und das kann auch zu einer späten Diagnose führen, wie Jens Berrang
erklärt. Reizbares bis aggressives Verhalten und depressive Veränderungen würden
ebenfalls beobachtet, ergänzt seine Kollegin Friederike Stemmann. "Zöliakie ist
ein Chamäleon." Der Kinderärzte-Berufsverband nennt zudem Rachitis,
Muskelschwäche, Schäden am Zahnschmelz oder Blutgerinnungsstörungen als mögliche
Folgen einer unbehandelten Zöliakie.

Es geht nicht ohne Tränen

Auch Erstklässlerin Carlotta (7) aus Düsseldorf hält schon Diät - seit sie
vier ist. "Ihr fällt es sehr schwer, dass sie als einzige nie einfach so
zugreifen darf, dass sie immer nachfragen und sehr oft verzichten muss. Es geht
nicht ohne Tränen", sagt ihre Mutter Anna Maria. "Das Unbeschwerte fehlt
Carlotta durch die Erkrankung, für ihr Alter ist sie sehr vernünftig, wirkt
schon fast erwachsen." Die allergrößte Angst des Mädchens: "Dass sie aus
Versehen etwas Glutenhaltiges isst und sich dann übergeben muss, in der Schule
oder bei Freundinnen."

Schon seit dem Babyalter habe Carlotta enorm viel geschlafen, auffallend
wenig gegessen und war leichtgewichtig. Immer wieder hakte die Familie in der
Kinderarztpraxis nach, dann kam die Diagnose. In der Uniklinik werde das Kind
gut versorgt. "Man merkt Carlotta nichts mehr an. Sie hat inzwischen ein
normales Gewicht, ist normal groß und schläft normal." In Kita, Schulumfeld und
Freundeskreis werde ihr viel Verständnis entgegengebracht. Und immer mehr
Produkte ohne Gluten kommen auf den Markt. "Wir versuchen, ihr so oft wie
möglich Alternativen anzubieten", berichtet Carlottas Mutter.

Es gibt nur eine einzige Therapie

Regelmäßige Untersuchungen sind bei Zöliakie wichtig, auch Blutanalysen,
weil sich nicht selten auch ein Mangel an lebenswichtigen Stoffen entwickelt
hat. Eine Diagnose könne inzwischen recht einfach mit zwei Bluttests gestellt
werden, weiß Jens Berrang. Auch in der niedergelassenen Ärzteschaft nehme das
Wissen über die genetisch veranlagte Erkrankung zu. Medikamente gebe es bisher
nicht. "Die einzige Therapie ist der vollständige und lebenslange Verzicht auf
Gluten", betont der Gastroenterologe.

Nicht alle komplexen Zusammenhänge bei Zöliakie sind geklärt. Es wird
geforscht - auch mit Blick auf Medikamente. DZG-Sprecher Peter Wark schildert,
mehr als ein Dutzend Kliniken und Studienzentren seien an der Entwicklung eines
Mittels beteiligt, das die Folgen abmildern solle, wenn mal versehentlich etwas
Glutenhaltiges verzehrt wurde. Wann es auf den Markt kommen könne, sei aber
unklar. Jan Jonathan greift derweil Zuhause in eine Schublade, die seine Mutter
immer wieder mit der ein oder anderen glutenfreien Leckerei füllt. Und dem
Schüler ist bei Lebensmittelprodukten eines längst zur Gewohnheit geworden: "Ich
lese mir immer erst die Zutatenliste durch."/wa/DP/zb

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