07.07.2024 14:39:43 - dpa-AFX: EM 2024/Tränen, Urlaub, Goldpokal: Nagelsmann als Bundesmotivator

HERZOGENAURACH (dpa-AFX) - Julian Nagelsmann wird seinen 37. Geburtstag
feiern. Er wird sich auch ganz sicher das eine oder andere Mal aufs Mountainbike
schwingen und hinauf in die geliebten Berge radeln. Der Blick in die Weite, von
ganz oben, das war schon oft Inspiration und Antrieb. In den Sommerwochen werden
Nagelsmanns in aller Öffentlichkeit gezeigte Tränen trocknen. Die Emotionen
dieser Fußball-EM, die Sehnsucht nach einem starken Wir-Gefühl im Land, die will
der Bundestrainer aber mitnehmen in die für ihn viel zu lange Zeit bis zur
nächsten Titelchance.

"Wir wollen Weltmeister werden", sagte Nagelsmann keck und vollmundig gleich nach dem so schmerzhaften 1:2 im Viertelfinale gegen Spanien. "Ein goldener
Pokal ist auch ganz schön", legte er in Anspielung auf die glänzende WM-Trophäe
bei seinem emotionalen EM-Abschlussstatement nach. Der größtmögliche Titel in
Amerika 2026 ist jetzt das große Ziel. Und er ist nach diesen EM-Wochen keine
Fantasterei.

Sportlich hat die Nationalmannschaft nach sechs Jahren Jammertal wieder an
die größten Kontinentalmächte wie Spanien, Frankreich, England und die
Niederlande angedockt. Diesmal musste man dem Quartett noch den Vortritt ins
EM-Halbfinale lassen. Die Abschiedsbotschaft von Toni Kroos macht aber Mut: "Wir
sind wieder auf Augenhöhe mit den Besten!"

Social-Media-Brief an die Fans

Der größte Gewinn dieses Heimturniers war aber die emotionale
Wiedervereinigung mit den Fans. Von diesem "Turnier wird etwas bleiben",
schrieben die Nationalspieler in einem offenen Social-Media-Brief an ihre
Anhänger. Was für die mit Leidenschaft und Authentizität zurückgewonnenen Fans
aber auch hängen blieb, war ein Bundestrainer, wie ihn die Nation noch nicht
gesehen hat. So menschlich, so emotional und mit so einem klaren Appell für
einen Ruck zu einem besseren Miteinander im Land kannte man den noch 36-Jährigen
nicht.

Mit seinem bemerkenswerten Auftritt hat Nagelsmann sein ganz persönliches
Turnierfazit gezogen. Der große Wunsch: Die positive Sommerstimmung rund um die
Nationalmannschaft soll jetzt auch im Alltag fortgetragen werden. Jenseits der
großen sportlichen Ambitionen.

"Ich glaube, wir können alle anpacken, dass es nicht so traurig ist, wie es
gerade wirkt und nicht alles schwarzgemalt werden muss, wie es gerade
schwarzgemalt wird. Man kann immer Probleme sehen - und wir haben Probleme im
Land. Man kann aber auch immer von Lösungen sprechen", sagte Nagelsmann am
Samstag bei der Abschlusspressekonferenz im Teamquartier in Herzogenaurach.

Gartenarbeit mit den Nachbarn

Wie so oft wählte der sichtlich angefasste Bundestrainer ein alltägliches
Beispiel. "Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller
fertig." Anpacken, gemeinsam. Mit Freude. Das solle das Motto für alle sein. Die
DFB-Elf steht nun mit ihm als dem großen Bundesmotivator als Beispiel dafür, was
möglich ist, wenn man aus schweren Zeiten kommt.

Auch wenn der Titel-Coup diesmal noch misslang. "Wir hätten gerne den Fans
mehr gegeben", versicherte der Bundestrainer, eine Woche mit gutem Fußball hätte
es als Zugabe geben sollen. Und: "Wir hätten gerne den Titel geholt."

Nagelsmann begann seine Rede mit einem "Dank an die Fans" und ging mit
seinen Worten weit über den Fußball hinaus. Er wurde zeitweise nahezu
staatstragend, wie man es von Spitzenpolitikern mit so viel Verve lange nicht
gehört hat. Die Niederlage gegen Spanien durch den späten Treffer zum 1:2 ganz
am Ende der Verlängerung beschäftigte ihn aber weiter immens. Und nicht nur ihn.
Viele Tränen - auch von den Spielern - habe es gegeben im Teamquartier. Bis tief
in die Nacht.

Lange hätten die Spieler noch zusammengesessen - ohne Alkohol - und hätten
gesprochen. Der sehnlichste Wunsch, die letzten fünf Minuten gegen Spanien
nochmal spielen zu dürfen, bleibt natürlich unerfüllt, auch wenn eine zwischen
ehrlichem Zorn, Trauer und Social-Media-Klamauk pendelnde Online-Petition das
Gegenteil erreichen will.

Einer der genau weiß, wie man aus sportlichen Tief- und Rückschlägen eine
spezielle Kraft ziehen kann, dachte auch in Lösungen: "So etwas schweißt nochmal
zusammen", sagte ARD-Experte Bastian Schweinsteiger zu dem dramatischen und
unverdient wirkenden Aus gegen Spanien. Er selbst hatte mehrere Anläufe
gebraucht, hatte zweimal (EM 2008/WM 2010) gegen Spanien verloren, bevor 2014
der WM-Coup gelang. Ein anderer historischer Fakt, der Mut macht: Zwei Jahre
nach dem Last-Minute-Aus gegen die Niederlande (1:2) bei der Heim-EM 1988 wurde
Deutschland mit Teamchef Franz Beckenbauer 1990 Weltmeister.

"Wusiala" als Verheißung

Nagelsmann weiß, die Grundsubstanz passt. Das "Wusiala"-Traumduo Jamal
Musiala und Florian Wirtz ist eine Verheißung. Eine Personalerschütterung wie
bei seiner März-Revolution muss der Bundestrainer nach dem Sommerurlaub, wenn es
in der Nations League im September gegen Ungarn und Holland weitergeht, nicht
wiederholen.

Die wichtigste Frage ist nicht, ob und wie Manuel Neuer (38) und Thomas
Müller (34) als letzte Rio-Weltmeister stilvoll in den DFB-Ruhestand
verabschiedet werden. Sie sollen das selber verkünden, war die leicht
verklausulierte Botschaft von Nagelmann. Die wichtigste Personalie ist: Wer
ersetzt Kroos, der als dritter verbliebener Champion von 2014 von sich aus ganz
aufhört und mit maximalen Huldigungen und Pathos verabschiedet wurde?

Nagelsmann nannte drei Namen: Pascal Groß, obwohl mit 33 Jahren auch schon
ein Oldie, kann nach seiner EM-Rolle als 45-Minuten-Backup aufrücken. In
Aleksandar Pavlovic (20) vom FC Bayern und Stuttgarts Angelo Stiller (23) sind
zwei junge Kandidaten bereit.

DFB-Chef: "Unglaublicher Spirit"

Nagelsmann hatte sich bald nach der nächtlichen Rückkehr nach Franken
zurückgezogen. Alleine müsse er die Dinge verarbeiten, nach möglichen Fehlern
suchen. Viele werde er nicht finden, versicherten DFB-Präsident Bernd Neuendorf
und Sportdirektor Rudi Völler. "Er hat das Amt des Bundestrainers für mich auch
ein Stück weit neu definiert in den vergangenen Wochen, so wie er aufgetreten
ist. Er hat eine unglaubliche Energie ausgestrahlt, einen unglaublichen Spirit",
sagte Neuendorf.

Der Verbandschef konnte es an seinem 63. Geburtstag noch als Geschenk
empfinden, mit dem nur etwas mehr als halb so alten Nagelsmann einen völlig
neuen Typ Bundestrainer für die DFB-Elf verpflichtet zu haben. Dieser
Bundestrainer braucht nun eine kleine Auszeit, wie er anmerkte. "Ich freue mich
auch, wieder anzugreifen, aber ein paar Tage müsst ihr mir schon geben, die
brauche ich", sagte Nagelmann./aer/DP/he

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