15.05.2024 16:05:54 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Umstrittenes Gesetz in Georgien bedroht EU-Zukunft des Landes

(Aktualisierte Fassung des Hintergrunds mit Fragen & Antworten vom Montag,
13. Mai.)

TIFLIS/BRÜSSEL (dpa-AFX) - Die Annahme eines umstrittenen Gesetzes über die
Einschränkung ausländischen Einflusses auf die Zivilgesellschaft in Georgien
belastet die Beziehungen zwischen der Republik im Südkaukasus und der EU.
Georgien lege sich damit Steine in den Weg Richtung EU, warnen Spitzenvertreter
der Europäischen Union und fordern die Rückziehung des Gesetzes. Auch in
Georgien selbst ist das Vorhaben extrem umstritten. Kritiker befürchten, dass
das Gesetz wie in Russland zur Drangsalierung der Zivilgesellschaft genutzt
werden soll. Doch weiter gefasst geht es auch um die demokratische Entwicklung
der ehemaligen Sowjetrepublik an der Südgrenze Russlands; es geht um den Kurs
des EU-Beitrittskandidaten Richtung EU und Nato.

Die Großdemonstrationen in der Hauptstadt Tiflis reißen nicht ab - auch
nachdem die Abgeordneten den Gesetzentwurf am Dienstag im Eilverfahren in
dritter Lesung abgesegnet haben. Am Mittwoch versammelten sich erneut
Zehntausende Menschen im Zentrum. Zuvor hatte die Polizei mehrere
Demonstrationen mit Gewalt aufgelöst. Fragen und Antworten zur Lage:

Worum geht es in dem umstrittenen Gesetz?

Nach Darstellung der seit 2012 regierenden Partei Georgischer Traum hat das
Ausland über die Förderung von Nichtregierungsorganisationen zu viel Einfluss in
Georgien. Es gebe einen "Mangel an Transparenz", sagte die Abgeordnete Maka
Botschorischwili aus dem Regierungslager. Das neue Gesetz verschärft die
Rechenschaftspflicht für jene NGOs, die mehr als 20 Prozent Geld aus dem Ausland
erhalten.

Kaum ein Land hat so viel Hilfe bekommen für Projekte in
Demokratieförderung, Medien, Soziales, Umwelt und Wirtschaft wie Georgien. Von
mehr als 20 000 registrierten NGOs seien 4500 bis 5000 tatsächlich aktiv,
schätzt Stephan Malerius, Vertreter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in
Tiflis. "Ich glaube, dass die Investitionen der EU, der USA und anderer Geber in
die Zivilgesellschaft sehr sinnvoll gewesen sind", sagte der Leiter des
Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Deutschen Presse-Agentur.

Die Kritiker des Gesetzes befürchten, dass die Organisationen von
ausländischem Geld abgeschnitten und mundtot gemacht werden sollen. In Russland
werden kritische NGOs als "ausländische Agenten" gebrandmarkt; deshalb nennen
die Demonstranten in Georgien den Entwurf nur das "russische Gesetz".

Was wollen Georgischer Traum und der Milliardär Iwanischwili?

Paradox ist, dass die Regierung von Georgischer Traum die erfolgreichen
Gespräche über den EU-Kandidatenstatus geführt hat. Sie hält nach Worten am
EU-Kurs fest - verfolgt aber zugleich gute Kontakte nach Moskau.

Starker Mann der Partei ist ihr Gründer Bidsina Iwanischwili (68), der mit
Geschäften in Russland zum Milliardär geworden ist und zeitweise auch
Ministerpräsident war. Ende April hielt er in Tiflis eine Rede, die eine
autoritäre Wende ankündigte - irgendwo zwischen Viktor Orban in Ungarn und
Wladimir Putin in Russland. Er drohte der Opposition strafrechtliche Verfolgung
an nach der kommenden Parlamentswahl im Oktober. Georgien müsse sich vor
verderblichem westlichem Einfluss schützen. Und er sprach von einer "globalen
Kriegspartei", die Georgien wie die Ukraine zur Konfrontation mit Russland
aufhetze.

Hat Russland tatsächlich seine Hand im Spiel?

Im Gegensatz zur internationalen Kritik hat Russland das Gesetz verteidigt.
"Kein souveräner Staat möchte die Einmischung anderer Länder in seine
Innenpolitik", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Es sei absurd, das Gesetz als
"russisches Projekt" zu sehen.

Beobachter wie Malerius sehen aber über das NGO-Gesetz hinaus Ähnlichkeiten
zur Entwicklung in Russland. Ein neues Gesetz erleichtert den Zufluss von
Offshore-Geld nach Georgien, was Iwanischwili wie auch Russen helfen könnte,
Sanktionen zu umgehen. Solche Indizien legten nahe, "dass das Drehbuch zu diesem
Geschehen in Russland geschrieben wurde", sagt Malerius.

Wer trägt die Proteste?

Vor allem junge Menschen gehen auf die Straße. Viele haben visafrei die EU
besucht und sehen die europäische Perspektive ihres Landes in Gefahr. Klare
Führungsfiguren gibt es nicht. Doch Staatspräsidentin Salome Surabischwili steht
aufseiten des Protests. Dazu kommen Gewerkschaftler, prominente Sportler und
Künstler, einige Geistliche der orthodoxen Kirche und einzelne Vertreter von
Georgischer Traum. In den vergangenen Tagen hat die Staatsmacht Regierungsgegner
öffentlich angeprangert und Schläger auf sie gehetzt. Dies hat die
Demonstrationen angeheizt.

Welche Folgen kann der Konflikt haben?

Die EU hat das Gesetz ein Hindernis für einen Beitritt Georgiens genannt.
"Die Verabschiedung dieses Gesetzes wirkt sich negativ auf die Fortschritte
Georgiens auf dem Weg in die EU aus", teilten der Außenbeauftragte Josep Borrell
und der zuständige Kommissar Oliver Varhelyi am Mittwoch mit. Die Entscheidung
über den weiteren Weg liege in Georgiens Händen. "Wir fordern die georgischen
Behörden nachdrücklich auf, das Gesetz zurückzuziehen, ihr Bekenntnis zum
EU-Beitritt aufrechtzuerhalten und die in den neun Schritten beschriebenen
notwendigen Reformen voranzutreiben." Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen sprach jüngst von einem Scheideweg, an dem sich Georgien befinde und
forderte das Land auf seinen Kurs Richtung EU fortzusetzen.

Vielleicht wird nicht sofort der Kandidatenstatus aberkannt. Aber es könnte
Sanktionen gegen Iwanischwili und seine Umgebung geben. In der US-Führung zeigte
sich der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan tief besorgt über den
"demokratischen Rückschritt".

Iwanischwili und Ministerpräsident Irakli Kobachidse geben sich überzeugt,
dass sie die Protestwelle aussitzen können. Doch in der Dynamik der Proteste
scheint nicht ausgeschlossen, dass die Regierung stürzt. Georgischer Traum
könnte auch im Oktober die Parlamentswahl verlieren, bei der sie angesichts der
zersplitterten Opposition eigentlich auf einen ungefährdeten Sieg zusteuerte.

Das Gesetz zum zweiten Mal nach 2023 zurückzuziehen, wäre eine bittere
Niederlage für Georgischer Traum, schrieb der Experte Alexander Atassunzew für
Carnegie Politika. "Aber es nicht zurückzuziehen bedeutet, die europäische
Zukunft des Landes zu riskieren und zugleich die eigene Macht."/fko/DP/men

--- Von Friedemann Kohler, dpa ---

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