15.05.2024 16:02:41 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 3: Lebenslang für Mord im Regionalzug von Brokstedt

(Aktualisierung im letzten Satz: Seelbach zu Revision.)

ITZEHOE (dpa-AFX) - Für den grauenhaften Messerangriff mit zwei Toten und
vier Schwerverletzten in einem Regionalzug im schleswig-holsteinischen Brokstedt
ist ein 34 Jahre alter Mann zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Große
Strafkammer des Landgerichts Itzehoe verurteilte Ibrahim A. am Mittwoch wegen
Mordes und versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer und gefährlicher
Körperverletzung und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Das heißt,
der Palästinenser kann nicht mit einer Aussetzung der Strafe zur Bewährung
bereits nach 15 Jahren rechnen. Der Vorsitzende Richter Johann Lohmann sprach
von einer sinnlosen Tat, "die uns fassungslos und verständnislos zurücklässt".

Der Angeklagte, der als Flüchtling aus dem Gazastreifen nach Deutschland
gekommen war, habe den Zweck verfolgt, "einen Amoklauf zu begehen und mehrere
Menschen zu töten", sagte Lohmann. In allen Fällen liege das Mordmerkmal der
niedrigen Beweggründe vor, in fünf der sechs Fälle Heimtücke. Ibrahim A. habe
sich ungerecht behandelt gefühlt und die Taten aus Wut darüber begangen. Die Tat
stelle sich als eine Art Racheakt an unbeteiligten Opfern dar, sagte Lohmann.
"Was haben diese unbeteiligten Menschen mit der Misere des Angeklagten zu tun?",
fragte der Richter.

Die Strafkammer folgte in ihrem Urteil der Strafforderung der
Staatsanwaltschaft. Nach Überzeugung von Staatsanwältin Janina Seyfert war
Ibrahim A. frustriert wegen eines erfolglosen Termins bei der Ausländerbehörde
in Kiel. Er habe seine Angriffsserie am 25. Januar 2023 in dem Zug nach Hamburg
völlig unvermittelt begonnen. Nach der ersten Attacke habe er sich auf der Suche
nach weiteren Opfern durch den Zug bewegt. Todesopfer sind eine 17-Jährige und
ihr 19 Jahre alter Freund. Der 19-Jährige hatte noch versucht, sich schützend
vor seine Freundin zu stellen. Die Tat hatte für Entsetzen weit über
Schleswig-Holstein hinaus gesorgt.

Nach anfänglichem Leugnen hatte Ibrahim A. die Taten zumindest teilweise
eingeräumt. Seine von Verteidiger Björn Seelbach vorgetragene Version des
Geschehens, nämlich, dass er von dem 19-Jährigen beleidigt und geschlagen worden
sei, wies Lohmann am Mittwoch als unglaubwürdig zurück. Das sei durch mehrere
übereinstimmende Zeugenaussagen eindeutig widerlegt. "Wir halten die Einlassung
für falsch und frei erfunden."

Erst wenige Tage vor der tödlichen Messerattacke war Ibrahim A. in Hamburg
aus einer Untersuchungshaft wegen einer anderen Straftat entlassen worden.
Während dieser Haftzeit hatte er sich wegen psychischer Auffälligkeiten 16 Mal
mit einem Psychiater getroffen. Wenige Monate vor seiner Entlassung habe sich
Ibrahim A. mit dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri,
verglichen, sagte Lohmann. Bereits damals habe er den Gedanken an einen Amoklauf
in sich getragen.

In dem Prozess, der mehr als zehn Monate dauerte und bei dem fast 100 Zeugen und Sachverständige gehört wurden, ging es auch um die Frage der Schuldfähigkeit
des Angeklagten. Der psychiatrische Sachverständige Arno Deister hatte in seinem
Gutachten ausgeführt, er halte den Angeklagten für voll schuldfähig. Er sehe
keine Psychose. Es liege aber eine schwere posttraumatische Belastungsstörung
vor. Mehrere Psychiater, die mit Ibrahim A. in der Untersuchungshaft vor und
nach der Tat gesprochen hatten, hatten als Zeugen von ihrer Verdachtsdiagnose
einer Psychose berichtet.

Seelbach hatte bereits früh in dem Prozess die Verlegung seines Mandanten
von der Untersuchungshaft in eine Psychiatrie gefordert. Aufgrund seiner
psychotischen Störungen sei er nicht schuldfähig. Für den Fall, dass das Gericht
die Frage der Schuldfähigkeit anders bewerte, hatte Seelbach in seinem Plädoyer
eine Gesamtstrafe von zehn Jahren wegen zweifachen Totschlags sowie vierfacher
gefährlicher oder schwerer Körperverletzung gefordert. Das Gericht schloss sich
den Ausführungen des Sachverständigen Deister an. "Wir halten den Angeklagten
für voll schuldfähig", sagte Lohmann. Die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des
Angeklagten sei nicht beeinträchtigt. Allerdings habe Ibrahim A.
traumatisierende Erlebnisse in seiner Heimat Gaza gehabt. In der Haft in
Deutschland habe es Retraumatisierungen gegeben.

Viele Zeugen aus dem Zug hatten während der Beweisaufnahme von dem
schrecklichen Geschehen in der Bahn berichtet - von Schreien und panischer
Flucht, von Verletzungen und Angst. Polizisten berichteten von einer chaotischen
Situation bei ihrem Eintreffen auf dem kleinen Bahnhof Brokstedt. Manche der
Betroffenen leiden nach eigenen Angaben noch immer unter den Folgen der Tat.
Eines der Opfer, eine Frau, die durch zahlreiche Stiche und Schnitte im Gesicht
gezeichnet war und nach der Tat unter starken Schmerzen litt, verlor nach
Angaben des Richters jeden Lebensmut und nahm sich später selbst das Leben.

Der Fall Ibrahim A. beschäftigte auch mehrere Landesparlamente. Bei der
Aufarbeitung kamen Fehler beim Austausch von wichtigen Informationen zwischen
Behörden in Hamburg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen zutage, wo der
Angeklagte jeweils lebte und auch Straftaten beging.

Ibrahim A. nahm die mehr als dreistündige Urteilsbegründung über weite
Strecken völlig unbeteiligt zur Kenntnis. Er vermied den Blickkontakt mit den
Prozessbeteiligten, wirkte zeitweise abwesend und unkonzentriert.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Zur Frage, ob sein Mandant in
Revision gehen wolle, sagte Seelbach, dazu müsse er erst die schriftliche
Urteilsbegründung abwarten./moe/bsp/DP/men

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