24.06.2024 05:50:42 - dpa-AFX: VERMISCHTES: 'Da ist die Hölle los' - Wenn Wissenschaftler im Shitstorm stehen

KARLSRUHE (dpa-AFX) - Als ihn ausgerechnet der bayerische
Vize-Ministerpräsident auf X als "Bub" bezeichnete, nahm Klimaforscher Christian
Scharun es mit Humor: Er setzte ein Häkchen hinter den Bucket-List-Eintrag "Von
Hubert Aiwanger beleidigt werden" und kommentierte, es sei immer noch "uncool,
andere Menschen anhand ihres Geschlechts, Alters oder Aussehens, anstatt nach
ihren Inhalten und Taten zu beurteilen".

Über Kommentare zu seinem jugendlichen Aussehen sehe er hinweg, sagt der
31-Jährige. Doch er wurde auch schon als "Klimajünger" beleidigt und als
"Faschist", wie er sagt. "Halt dein dummes Maul" gehöre noch zu den harmlosen
Kommentaren. "Ich könnte täglich eine Handvoll Anzeigen erstatten", sagt der
ehemalige Forscher am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der heute für
die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim arbeitet.

Wie Scharun geht es vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Posten sie etwas im Internet, hagelt es Kritik, Beleidigungen, manchmal Morddrohungen.
Eine Kollegin habe mal leicht ironisch gesagt, es sei erst eine Todesdrohung
dabei gewesen. "Das ist doch bitter, wenn dass das Positive sein soll", sagt
Scharun. Viele Forschende kommunizierten lieber gar nicht erst öffentlich, um
Shitstorms zu entgehen. "Es kann aber doch nicht das Ziel sein, dass sich am
Ende nur die mit harter Schale äußern."

Beleidigungen und Anfeindungen ernstes Problem

Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hat im Mai Ergebnisse einer repräsentativen Befragung veröffentlicht, nach der 45
Prozent der Forschenden in irgendeiner Form Wissenschaftsfeindlichkeit erlebt
hat. Tendenz: steigend.

Zwar gab es Kritik, die Studie zähle zu Wissenschaftsfeindlichkeit auch
"herablassende Äußerungen" und eine "unangemessene Reaktion auf
wissenschaftliche Erkenntnisse in öffentlichen Diskussionen". Doch an der
Quintessenz gibt es wohl nichts zu rütteln: "Anfeindungen gegen Forschende sind
ein ernstes Problem."

Und das nicht nur, wenn sie - wie in Corona-Zeiten der Virologe Christian
Drosten - in den Fokus der Öffentlichkeit und damit der öffentlichen Debatte
rücken. Auch weitgehend unbekannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind
betroffen, wie Scharun sagt.

Nach Vorträgen kämen eher selten Menschen zu ihm und äußerten Kritik
- "meist nicht freundlich, aber friedlich". In sogenannten sozialen
Netzwerken aber, "da brennt der Baum". "Tempolimit ist ein Garant für
Shitstorms", sagt Scharun. "Da ist die Hölle los." Aber auch mit Beiträgen zum
Klimawandel löst er regelmäßig Fluten an Reaktionen aus. "Da kann ich davon
ausgehen, dass sich innerhalb weniger Stunden die gesamte Meute versammelt."

Neben falschen Behauptungen von Klimawandelleugnern und Beleidigungen gehe
es schnell nicht mehr um die Sache, sondern um Themen wie Corona, Russlands
Krieg in der Ukraine und den Gaza-Konflikt. Scharun spricht von
"Bullshit-Bingo". Ein Klassiker, vor allem seit er für die aus dem ZDF bekannte
Nguyen-Kim und "Terra X" arbeitet: Was er für die Öffentlich-Rechtlichen
erzähle, werde "von oben" diktiert, er sei eine "Marionette der Eliten".

Hilfe für Betroffene

Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von Anfeindungen,
Drohungen oder Hass-Nachrichten betroffen sind, gibt es Hilfsangebote. Im
Netzwerk für kommunizierende Forschende ("WissKon") können sie sich über einen
sogenannten "Mayday-Button" Unterstützung holen. Der Bundesverband
Hochschulkommunikation und die Organisation Wissenschaft im Dialog haben im
vergangenen Jahr zudem die Initiative "Scicomm-Support" ins Leben gerufen, eine
Online-Plattform samt Telefonnummer für persönliche Beratung.

Anders als erwartet konzentriert sich die Arbeit nicht nur auf Bereiche, in
denen zu aktuell gesellschaftlich relevanten und kontroversen Themen wie
Klimawandel, Forschung mit Tierversuchen, Gender- und Diversityforschung
gearbeitet wird. "Tatsächlich kommen die Anrufe aber aus dem gesamten
wissenschaftlichen Fächerspektrum", teilte das Team mit und nannte als Beispiele
auch Theologie, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften.

Seit Beginn beraten die Fachleute demnach unter anderem einen Professor, den eine Person seit acht Jahren beschimpft, bedroht, verfolgt - bis hin zu einem
körperlichen Angriff in der Stadt. Bei öffentlichen Veranstaltungen sei ein
Sicherheitsdienst dabei.

"Desinformation ist auch eine Waffe"

Scharun tauscht sich in einer kleinen Community aus. "Da schicken wir uns
auch mal die dümmsten Kommentare." Auf X verzichten will er nicht. Dort könne er
viele Menschen erreichen, zumal es in der Wissenschaft durchaus genug Anlass zu
sachlichen Diskussionen gebe. Seit Juli 2021 ist er überhaupt erst auf der
Plattform, nach einem Sieg bei einem Wissenschafts-Wettbewerb. Inzwischen hat er
mehr als 16 500 Follower.

Und er hat sich eine Strategie zurechtgelegt: Accounts mit wenigen Followern antwortet er gar nicht erst. Wenn er auf die großen Fake-News-Verbreiter mit
Tausenden Anhängern reagiere, sei das zwar in 99 Prozent vermutlich auch
vergebene Liebesmüh, räumt Scharun ein. "Aber vielleicht erwische ich doch einen
Mitleser oder eine Mitleserin." Doch auch das koste viel Zeit: "Es ist viel
leichter, Bullshit zu verbreiten, als Bullshit richtigzustellen."

Zudem nutze er inzwischen mehr Zeit zum Aufklären, wie Falschinformationen
verbreitet werden - wenn etwa Zitate von Nobelpreisträgern aus dem Kontext
gerissen werden. Auf X wünscht Scharun sich mehr Regeln wie eine Pflicht zu
Quellenangaben. Früher seien häufiger Accounts gesperrt worden, sagt er. Heute
fände er es gut, wenn es zumindest Warnungen gäbe, dass ein Account
höchstwahrscheinlich Fake News verbreite. "Natürlich sollte man prinzipiell
alles sagen dürfen", sagt Scharun. "Aber Desinformation ist auch eine
Waffe."/kre/DP/zb

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