15.05.2024 10:22:25 - dpa-AFX: SPORT/Hoffnungen und Zweifel: Gruppen-Coming-out bewegt den Fußball

BERLIN (dpa-AFX) - Marcus Urban glaubt fest daran. Eine Partie in der
Fußball-Bundesliga, nach dem Schlusspfiff feiern die Spieler den Sieg mit ihren
Familien - und einer von ihnen umarmt seinen Mann. "Das wäre totale Freude, für
mich ein Stück Heilung, für viele Menschen eine Befreiung", sagte Urban der ARD
über seine Traum-Vorstellung. Doch was in Deutschland in vielen Bereichen längst
Normalität ist, gilt im Profi-Fußball immer noch als schwer vorstellbar.

Urban will das ändern. Für diesen Freitag - den Welttag gegen Homophobie -
hat der 53-Jährige ein Gruppen-Coming-out schwuler Fußballer geplant. Seit der
Ankündigung vor einigen Monaten sind die Erwartungen groß. Nun wachsen aber
ebenso die Zweifel. "Aktive Profifußballer halten sich noch zurück", sagte Urban
dem Magazin "Stern". Kontakt zu schwulen Profifußballern habe er nicht direkt.
"Keiner traut sich aus der Deckung."

Und nicht alle sind von der Aktion restlos überzeugt. "Wir halten das für
ein zweischneidiges Schwert", teilte das Netzwerk Queer Football Fanclubs (QFF)
auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. "Ein Coming-out ist immer eine
sehr persönliche Angelegenheit, die man wohl kaum konzertiert "veranstalten"
kann." Den Termin vor dem letzten Bundesliga-Spieltag hält das Netzwerk
europäischer schwul-lesbischer Fanclubs für "eher ungünstig".

Klima verändert sich

Christian Rudolph, der Leiter der Anlaufstelle für geschlechtliche und
sexuelle Vielfalt beim Deutschen Fußball-Bund, wünscht sich statt einer
Konzentration auf den Profifußball einen Blick auf den gesamten Sport. "Ich
finde es schade, dass es noch notwendig ist, darüber zu sprechen und dass es
leider noch keine Selbstverständlichkeit im Sport ist", sagte er der dpa.

Für den früheren Jugend-Nationalspieler Urban ist seine Kampagne "Sports
Free" auch dann ein Erfolg, sollte am Freitag kein aktiver Fußball-Profi seine
Homosexualität öffentlich machen. "Vor allem geht es um die Kultur und das Klima
im Leistungssport", sagte er. Da habe sich etwas verändert, viele
Bundesliga-Clubs unterstützten das Projekt. "Da entsteht gerade etwas Großes."

Doch warum zögern Fußballer in Deutschland trotz des öffentlichen Zuspruchs
und der Unterstützung von Vereinen? "Es ist nicht ausschließlich ein Problem im
Profifußball, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen", sagte der
frühere Nationalspieler Thomas Hitzlsperger zu Jahresbeginn der dpa. Sein
Coming-out nach seiner aktiven Karriere liegt mittlerweile zehn Jahre zurück.
"Es ist für viele Menschen immer noch ein Problem, wenn man von der
gesellschaftlichen Norm abweicht", sagte der 42-Jährige.

Diese Einschätzung stützt auch eine aktuelle Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts YouGov. 46 Prozent der Fußball-Interessierten in
Deutschland sehen Homophobie im Profifußball demnach weiterhin als ernstes
Problem. "Wir denken, dass die Gesellschaft zumindest in Deutschland und weiten
Teilen Europas bereit wäre, das ist aber sicher nicht überall so. Hier ist nach
wie vor viel Aufklärungsarbeit und Einsatz gefordert", heißt es vom Fan-Netzwerk
QFF. Rudolph vermisst entsprechende Netzwerke im Sport generell: "Ich würde mir
wünschen, dass sich Menschen zusammentun und über Erfahrungen sprechen."

Coming-Out kann "vieles bewirken"

Urban sieht Probleme im Umfeld der Spieler. "Es ist ein riesiges
Versteckspiel. Die schwulen Profis führen Doppelleben", sagte er. "Und dann gibt
es Berater oder andere Personen im Umfeld, die trotz alledem von den Spielern
verlangen: Sei nicht du selbst, verleugne dich, sonst gefährdest du deine
Karriere. Das sind unhaltbare Zustände." Viele Fußballer gingen davon aus, bei
einem Coming-out in Ungnade zu fallen oder Sponsoren zu verlieren. "Ich glaube,
das ist eine Fehleinschätzung." DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig sieht auch
den Verband in der Pflicht. "Ich glaube, dass die Zeit mittlerweile zwar reif
ist, aber dass die Atmosphäre und dieser Wohlfühlfaktor, den es braucht, um sich
auch zu öffnen, das vermissen diejenigen, die es angeht. Und da müssen wir
helfen", sagte er der ARD.

Hitzlsperger berichtete von "fast ausnahmslos positiven Reaktionen" nach
seinem Coming-out. Dennoch ist kein aktiver Fußballer in Deutschland seinem
Beispiel gefolgt. Der Australier Josh Cavallo, der Tscheche Jakub Jankto und der
Engländer Jake Daniels wagten den Schritt, berichteten aber anschließend teils
auch von homophoben Beschimpfungen. Im Handball mit dem Leipziger Lucas
Krzikalla und im Volleyball mit dem Ex-Berliner Benjamin Patch gibt es immerhin
vereinzelt Vorbilder. Umso größer sind die Hoffnungen in Urbans Initiative. "Das
könnte vieles bewirken, das könnte vieles verändern", sagte
Hitzlsperger./mms/DP/jha

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