14.07.2024 02:07:51 - dpa-AFX: EM 2024/Abenteurer auf der Achterbahn: Southgate vor Happy End

BERLIN (dpa-AFX) - Dass Gareth Southgate bei dieser Fußball-EM mal noch als
"rücksichtsloser Abenteurer" bezeichnet wird, hätte er wahrscheinlich selbst
nicht gedacht. Abgesehen von seiner eigenen Mannschaft hatte der Trainer der
englischen Nationalmannschaft eigentlich schon alle gegen sich: die Medien, die
Experten in England, die Experten in Deutschland, die Fans. Letztere ließen zum
Abschluss einer extrem biederen Vorrunde sogar Bierbecher in Richtung von
Southgate fliegen.

Mit dem mitreißenden 2:1 im Halbfinale gegen die Niederlande, bei dem er
sowohl den Siegtorschützen Ollie Watkins als auch Vorbereiter Cole Palmer
einwechselte, scheint sich der Trainer endgültig rehabilitiert zu haben. Der
"Technokrat" war gestern, der "Abenteurer" ist heute. Als "verwirrend, aber
brillant" bezeichnete der "Guardian" die Entscheidungen von Southgate, der
England ins erste große Finale außerhalb der britischen Insel führte. Gegen
Spanien ist am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) die erste Titel-Krönung
seit 1966 möglich.

Große Erfolge, wenig Respekt

Was Verbandspräsident Prinz William vor der Abreise des Teams nach
Deutschland prophezeit hat, hat sich bewahrheitet. "Er sagte, dass es eine
Achterbahnfahrt wird und dass dieses Turnier einfach brutal ist", erzählte
Mittelfeldspieler Declan Rice über die Worte von William. Mittendrin auf der
Achterbahn: Der pragmatische Cheftrainer Southgate, den manche Fans am liebsten
noch vor dem Achtelfinale ersetzt hätten. Und der ihnen jetzt, nach drei harten
K.-o.-Spielen mit großer Moral, den Silberpokal in die Heimat bringen könnte.

Southgate ist der erfolgreichste englische Chefcoach seit Weltmeister-Macher Alf Ramsey. Gemessen daran bekommt der 53 Jahre alte Ex-Profi auf der Insel
extrem wenig Respekt. Die Anhänger vermissen die spielerischen Glanzleistungen,
Experten kritisierten regelmäßig seine vorsichtige Herangehensweise. Das
Milliardenensemble könne so viel mehr, so lautet der Hauptvorwurf in Richtung
von Southgate.

"Würden alles tun, um ihn zu schützen"

Das Team steht geschlossen hinter dem Mann, der 2016 übernahm und England
seither stets mindestens ins Viertelfinale führte. Das gelang in diesem Zeitraum
keiner anderen Nation aus Europa. "Wir würden alles tun, um diesen Trainer zu
schützen", sagte Rice nach dem Achtelfinale gegen die Slowakei, das nur dank
eines Fallrückziehers von Jude Bellingham in der fünften Minute der
Nachspielzeit nicht verloren ging. Southgate war zu diesem Zeitpunkt noch etwa
90 Sekunden vom Ende der achtjährigen Ära entfernt.

Luke Shaw äußerte sich ähnlich wie Rice. "Ich verstehe die Kritik an ihm
nicht. Er hat so viel für unser Land und uns Spieler gemacht, er hat uns Profis
auf ein neues Level gehoben. Kein Trainer war in der jüngeren Vergangenheit so
erfolgreich wie er", sagte der Außenverteidiger, der als Vertrauter von
Southgate gilt. Der Trainer pflegt zudem vor allem mit seinen langjährigen
Weggefährten wie Kapitän Harry Kane, Torhüter Jordan Pickford und
Innenverteidiger John Stones ein inniges Verhältnis.

Die Frage nach seiner Zukunft schwebt aber weiter über dem Team. Zumindest
seitens des Verbands scheint die Richtung klar: Die FA will nach Angaben des
"Telegraph" mit Southgate verlängern - und zwar unabhängig vom Ausgang des
Spiels gegen Spanien. Verbandsboss Mark Bullingham gilt als großer Befürworter
von Southgate, der noch einen Vertrag bis Ende des Jahres hat.

Die fünf verbleibenden Monate sind aber eher theoretischer Natur. Entweder
Southgate geht nach der EM und macht den Weg frei für einen Neuaufbau. Oder der
53-Jährige bleibt und setzt seine Amtszeit fort - dann aber gewiss nicht nur bis
Dezember, sondern bis einschließlich zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko.
Es sei für ihn emotional unmöglich, im Moment eine "logische Entscheidung" zu
treffen, sagte Southgate im Sky-Interview.

Southgate-Abgang auch im Titelfall?

Vor dem Turnier hatte sich Southgate in einem Interview mit internationalen
Medien, zu denen auch die "Bild" und die "Süddeutsche Zeitung" zählten, relativ
offen zu dem Thema geäußert. "Wenn wir nicht gewinnen, werde ich wahrscheinlich
nicht mehr hier sein. Dann war es vielleicht die letzte Chance. Ich glaube, nach
einem Turnier geht in etwa die Hälfte der Nationaltrainer - das liegt in der
Natur des internationalen Fußballs", sagte Southgate.

Er könne sich nach acht Jahren nicht ständig hinstellen und um weitere
Chancen bitten. Wegen der Schärfe der Kritik und infolge einer über weite
Strecken holprigen EM ist ein Abgang von Southgate aber auch bei einem
Titelgewinn eine realistische Option.

Held oder Depp: Southgate ist es aus seiner Zeit als Profi gewohnt, nach
großen Spielen in extreme Schubladen einsortiert zu werden. Dies setzte sich als
Trainer in den vergangenen knapp acht Jahren fort. Ein Blick auf große Partien
des Engländers, die fast immer etwas mit Elfmetern zu tun hatten:

EM-Halbfinale 1996

Selten erlangte ein Profi so viel Prominenz für einen verschossenen Elfmeter wie Southgate. Der Verteidiger nahm den Spott nach dem Halbfinal-Aus im
Elfmeterschießen gegen Deutschland sportlich und verarbeitete ihn in einer
Pizza-Werbung, in der er sich an der Seite der 1990er-Fehlschützen Stuart Pearce
und Chris Waddle veralbern ließ. Doch der Fauxpas bei der Heim-EM setzte ihm
massiv zu.

"Der verschossene Elfmeter wird wohl der entscheidende Punkt in meiner
Karriere bleiben. Viele Leute, die mich trösten wollten, haben gesagt: Wirst
sehen, das geht vorbei. Aber es geht nicht vorbei. Mit welcher Leistung soll ich
das ausgleichen?", sagte Southgate einmal der "Süddeutschen Zeitung". Am Sonntag
wäre die ideale Gelegenheit.

WM-Achtelfinale 2018

1996, 1998, 2004, 2006 und 2012 verlor England fünf Elfmeterschießen in
Serie. Dann kam Southgate - als Trainer. Er ging das Thema wissenschaftlich an
und gründete eine Task Force, die sich unter anderem mit der Atemtechnik der
Spieler befasste. Im WM-Achtelfinale gegen Kolumbien gab es nach 22 Jahren
prompt erstmals wieder einen Sieg vom Punkt.

EM-Finale 2021

Doch die heile Elfmeterwelt hielt nicht lange. Und die Finalniederlage gegen Italien wurde dann direkt wieder Southgate angekreidet. Im Wembley-Stadion
verschossen in Jadon Sancho, Bukayo Saka und Marcus Rashford gleich drei Profis
beim Showdown. Pikant: Der Trainer hatte das Trio eingewechselt, Sancho und
Rashford sogar erst in der 120. Minute und explizit fürs Elfmeterschießen.

WM-Viertelfinale 2022

England gegen Frankreich galt in Katar als das Duell von Europas Giganten.
Die Three Lions hielten ordentlich mit, mussten sich aber nach einem
verschossenen Elfmeter von Kapitän Kane in der regulären Spielzeit mit 1:2
geschlagen geben. Die Nation war sich schnell einig: Diesem Trainer gebührt das
Vertrauen bis zur nächsten EM in Deutschland.

EM-Halbfinale 2024

Und bei diesem Turnier führte Southgate England nun ins dritte Finale der
Landesgeschichte. Auf Ramsey 1966 folgten Southgate 2021 und Southgate 2024. Der
Ex-Profi schaffte ein zweites Mal, woran Generationen vor ihm gescheitert sind.
Entsprechend euphorisch gab er sich vor den rund 20.000 englischen Fans in
Dortmund. "One more! One more!", brüllte er in Richtung der Ränge. Noch ein Sieg
- dann wäre sein Elfmeter aus dem Jahr 1996 endgültig in den Hintergrund
gedrängt./pre/DP/he

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