04.07.2024 19:20:31 - dpa-AFX: POLITIK: BND-Präsident Kahl räumt Fehler bei Lageeinschätzung um Kabul ein

BERLIN (dpa-AFX) - Der Präsident des Bundesnachrichtendiensts, Bruno Kahl,
hat eine Fehleinschätzung des Tempos der islamistischen Taliban eingeräumt, mit
dem sie 2021 die afghanische Hauptstadt Kabul einnahmen.

Der BND habe jahrelang ein zuverlässiges Lagebild für die Bundeswehr
erstellt, das des Öfteren Leben gerettet habe, sagte Kahl im
Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags in Berlin. Und auch, dass die
Taliban ein "Emirat 2.0" errichten wollten, sei richtig eingeschätzt worden.
"Was wir nicht korrekt vorausgesehen haben, ist das Drehbuch, das auf den
letzten Zentimetern abgelaufen ist", räumte er im Zusammenhang mit dem Vorrücken
der Taliban aber ein.

Eine alles entscheidende Frage

Dass die Geschwindigkeit der Taliban "auf der letzten Meile zugenommen hat,
ist auch uns nicht verborgen geblieben", sagte Kahl. Dies habe man gesehen,
beschrieben und in die prognostischen Teile der Lageberichte eingebaut. Die
alles entscheidende Frage sei damals aber gewesen: "Was bedeutet die Entwicklung
für die Hauptstadt Kabul."

Hier sei der BND wie alle anderen vor Ort präsenten Geheimdienste davon
ausgegangen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte länger durchhalten und
nicht gleich kapitulieren würden, sagte Kahl. Es habe sich aber als
Fehleinschätzung erwiesen, dass Kabul nicht schon am Wochenende 14./15. August
2021 fallen würde, räumte der BND-Präsident ein. Auch andere befreundete Dienste
hätten keine entsprechenden Hinweise gehabt.

Kahl: BND hat Kipppunkte benannt

Der BND habe seine Voraussagen damals an Bedingungen geknüpft - sogenannte
Kipppunkte, die man schon vor der Sitzung des Krisenstabs im Auswärtigen Amt am
13. August auch schriftlich benannt habe, sagte Kahl. Man habe damals deutlich
gemacht, dass die Prognosen hinfällig sein würden, wenn diese Kipppunkte
eintreffen würden.

Dazu zählten die nahezu vollständige Isolierung der Hauptstadt Kabul, die
Einnahme von Provinzzentren in deren Großraum sowie der Abzug der
US-Streitkräfte und eines Großteils der Botschaften. Diese Punkte seien aber
unmittelbar nach der Krisensitzung bis zum 15. August eingetreten. Damit sei die
Prognose des BND hinfällig gewesen, sagte Kahl.

"Kein Hinweis, dass Kipppunkte schnell eintreten"

Es habe zuvor keinerlei Hinweise dafür gegeben, dass sich einer der
genannten Indikatoren vor dem 15. August 2021 realisieren würde, betonte Kahl.
Weder der BND noch ein anderer Nachrichtendienst habe einen solchen Hinweis
gehabt.

Dies hätte etwa ein Hinweis darauf sein müssen, dass die Amerikaner sich vom 14. auf den 15. August aus ihrer Botschaft zurückziehen würden, ergänzte der
BND-Präsident. Darauf habe es keinen Hinweis gegeben - und aus
Sicherheitsgründen auch nicht geben sollen, sagte Kahl. Denn in dem Falle wäre
der Abzug der USA gefährdet gewesen - "und es hätte sich ein Wettrennen zum
Flughafen ergeben, das noch um ein Vielfaches chaotischer gewesen wäre" als das,
was man dann erlebt habe, erklärte der BND-Präsident.

"Delle" beim Nachrichtenaustausch

Es habe eine "gewisse Delle" beim Nachrichtenaustausch zu befreundeten
Diensten vor dem 15. August gegeben, räumte der BND-Präsident ein -
offensichtlich auch mit Blick auf die USA. Kahl betonte zugleich, der BND selbst
habe "das allergrößte Interesse" an der Aufklärung des Sachverhalts und daran,
zur Wahrheit beizutragen. Aus diesem Grund habe man die Aufklärung mit aller
Kraft etwa durch eine arbeitsintensive Aktenvorlage unterstützt./bk/DP/he

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