26.05.2024 17:20:07 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP: Entrüstung über Sylter Skandalvideo

BERLIN/SYLT (dpa-AFX) - Die rassistischen Gesänge junger Partygäste auf Sylt
alarmieren die Politik und schüren Ängste vor einem Rechtsruck bis hinein in die
gesellschaftlichen Eliten. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung,
Felix Klein, sagte am Wochenende, menschenfeindliche Ideologie sei inzwischen
ganz offensichtlich "Teil der Popkultur". Und sie sei in Milieus salonfähig,
denen klar sein müsse, dass Ausländer maßgeblich zum Wohlstand beitrügen.
Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sagte: "Wer so rumpöbelt, ausgrenzt und
faschistische Parolen schreit, greift an, was unser Land zusammenhält."
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) rief zu Zivilcourage in solchen
Situationen auf.

Die bekannte Bar Pony im Inselort Kampen auf Sylt hatte nach Bekanntwerden
des kurzen Videos Strafanzeige gestellt, der Staatsschutz der Polizei ermittelt
wegen Volksverhetzung und des Verwendens verfassungswidriger Kennzeichen.

"Ganz schlimmen Fehler" gemacht

Einer der Beteiligten, der in dem Video eine Geste andeutet, die an den
Hitlergruß denken lässt, schrieb laut "Bild" in sozialen Medien: "Alle, die wir
damit vielleicht verletzt haben, bitte ich um Entschuldigung." Er habe einen
"ganz schlimmen Fehler" gemacht und schäme sich. Er gab demnach an, sich der
Polizei gestellt zu haben und die rechtlichen Konsequenzen tragen zu wollen.

In dem Video, das am Donnerstag viral gegangen war und zu Pfingsten
entstanden sein soll, ist zu sehen und zu hören, wie junge Menschen zur Melodie
des mehr als 20 Jahre alten Party-Hits "L'amour toujours" von Gigi D'Agostino
rassistische Parolen grölen. Scheinbar ungeniert und ausgelassen singen sie
"Deutschland den Deutschen - Ausländer raus!". Von den Umstehenden scheint sich
niemand daran zu stören. Der Antisemitismusbeauftragte Klein sagte dem
Redaktionsnetzwerk Deutschland (Sonntag), das sei Beleg für das Vordringen
menschenfeindlicher Ideologie in die Gesellschaft.

Bundestagspräsidentin Bas sagte im Sender Phoenix: "Wenn man solche
unappetitlichen Auftritte sieht, fragt man sich wirklich, was in den Köpfen
dieser jungen Menschen vorgeht. Ich wünsche mir viel Zivilcourage und dass
andere dagegenhalten."

Am Sonntagnachmittag versammelten sich nach Polizeiangaben etwa 70 bis 80
Menschen in Kampen zu einer Mahnwache. Zu dem Protest hatte ein Zusammenschluss
zivilgesellschaftlicher Gruppe von Sylt aufgerufen. Auf einem Plakat war etwa zu
lesen: "Sylt. Oben links. Nicht rechts!"

Kündigungen für Beteiligte

Für einige Beteiligte hatte das Gegröle ein schnelles Nachspiel: Die
Werbeagentur-Gruppe Serviceplan Group erklärte, sie habe einen beteiligten
Mitarbeiter fristlos entlassen. Auch die Hamburger Influencerin Milena Karl
entließ nach eigenen Angaben eine Mitarbeiterin, die dabei war. "Ich bin selbst
Migrantin und als werdende Mutter steht alles, was in diesem Video zu sehen ist,
für eine Gesellschaft, in der ich mein Kind nicht großziehen möchte."

Die Betreiber des Lokals schrieben dazu auf Instagram: "Hätte unser Personal zu irgendeinem Zeitpunkt ein solches Verhalten mitbekommen, hätten wir sofort
reagiert." Bei der Party waren mehrere Hundert Gäste. Am Sonntag berichteten die
Betreiber zudem, sie hätten nach Bekanntwerden des Vorfalls Beleidigungen und
Morddrohungen erhalten. Sie veröffentlichten als Reaktion eine Sequenz aus einem
Überwachungsvideo, das die Szene aus einem anderen Blickwinkel zeigt. "An alle,
die ständig fragen: "Hat man das nicht mitbekommen?" Ihr seht selbst, dass die
Mehrheit auf dem Video ihren Spaß hat, während eine kleine Gruppe etwas
skandiert, das mit unseren Grundwerten nicht vereinbar ist."

DJ Gigi D'Agostino, dessen Song verhunzt wurde, stellte klar, dass sich
dieser ausschließlich um Liebe drehe. "In meinem Lied "L'amour toujours" geht es
um ein wunderbares, großes und intensives Gefühl, das die Menschen verbindet",
teilte D'Agostino mit. Zentral sei zudem die Freude über die Schönheit des
Zusammenseins.

Merz: "Mit Alkoholkonsum nicht mehr zu erklären"

Wirtschaftsminister Habeck nannte die Video-Szenen verstörend und absolut
inakzeptabel. Den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sagte er, Deutschland habe es
geschafft, zu einer starken Demokratie zu werden, die auf Respekt und Pluralität
gebaut sei. "Das zu schützen ist unsere Aufgabe." Der CDU-Bundesvorsitzende
Friedrich Merz fragte: "Was geht eigentlich in den Köpfen dieser Leute vor, das
ist doch auch mit Alkoholkonsum nicht mehr zu erklären."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußerte sich mit Blick auf die
rassistischen Gesänge besorgt über die Verrohung der politischen Umgangsformen.
Weiter sagte er beim Demokratiefest in Bonn, offensichtlich seien es nicht nur
"die Randständigen, Abgehängten", die sich radikalisieren. "Sondern das ist eine
Radikalisierung, die mindestens in Teilen in der Mitte der Gesellschaft auch
stattfindet." Am Freitag hatte schon Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Parolen
als "ekelig" und "nicht akzeptabel" bezeichnet.

Auch aus Sicht der Expertin Pia Lamberty zeigt das Sylt-Video eine
Normalisierung rechtsextremer Inhalte in der Gesellschaft. "Ohne dass es
irgendeine Form von Widerspruch gibt, werden die sozialen Normen einfach
gebrochen", sagte die Co-Geschäftsführerin des Centers für Monitoring, Analyse
und Strategie (Cemas), das Radikalisierungstendenzen und
Verschwörungserzählungen im Netz untersucht.

Vorfälle auch in Bayern und Niedersachsen

Auch der Club Rotes Kliff im Nobelort Kampen berichtete von einem
"Rassismus-Vorfall" zu Pfingsten. Die betroffenen Personen seien des Clubs
verwiesen worden und hätten jetzt Hausverbot, schrieben die Betreiber am Freitag
auf Instagram.

Doch Sylt ist kein Einzelfall. In den vergangenen Monaten gab es immer
wieder Vorfälle, bei denen zu dem Lied Nazi-Parolen gerufen wurden - etwa in
Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. In der Oberpfalz ermittelte die Polizei nach
einem möglichen Vorfall bei einem Faschingszug im Februar.

In Erlangen skandierten - wie auf Sylt - zwei Männer auf der Bergkirchweih
rassistische Parolen zu "L'amour toujours". Wie die Polizei am Samstag
mitteilte, bekamen die Verdächtigen im Alter von 21 und 26 Jahren am
Freitagabend ein Betretungsverbot - der Staatsschutz leitete Ermittlungen ein.

Schon am Freitag wurde bekannt, dass es ebenfalls an Pfingsten in
Niedersachsen zu einem ähnlichen Fall kam. Auch auf dem Schützenfest im
niedersächsischen Löningen westlich von Cloppenburg wurden rassistische Parolen
gegrölt, auch zu "L'amour toujours", auch dort ermittelt der
Staatsschutz./toz/DP/he

© 2000-2024 DZ BANK AG. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen | Impressum
2024 Infront Financial Technology GmbH