13.05.2024 16:39:14 - dpa-AFX: ROUNDUP 2/Entlassung von Schoigu: Putin richtet Russlands Kriegspolitik neu aus

MOSKAU (dpa-AFX) - Sergej Schoigu geht, Andrej Beloussow kommt: Mit der
Auswechslung seines Verteidigungsministers hat Kremlchef Wladimir Putin
innerhalb und außerhalb von Russland für großes Aufsehen gesorgt. Auch einen Tag
nach Bekanntgabe des überraschenden Personalwechsels spekulierten am Montag
viele Beobachter über die Hintergründe - und vor allem darüber, was dies für den
weiteren Verlauf von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeuten wird.

Interne Machtkämpfe und stärkere Ausrichtung auf Kriegswirtschaft

Spät am Sonntagabend hatte das Oberhaus des russischen Parlaments bekannt
gegeben, dass Putins Vorschlag eingegangen sei, seinen engen Vertrauten Schoigu
durch den bisherigen Vize-Regierungschef Beloussow zu ersetzen. Beloussow
stellte sich schon am Montag im Verteidigungsausschuss des Föderationsrates vor.
Laut Verfassung müssen die Personalvorschläge des Präsidenten für die
sicherheitsrelevanten Ministerien mit dem Oberhaus des russischen Parlaments
beraten werden. Schoigu soll dann Sekretär des nationalen Sicherheitsrats
werden.

Anlass für die Personalwechsel ist die Neubildung der russischen Regierung,
die nach der von Betrugsvorwürfen überschatteten Präsidentenwahl Mitte März nun
verfassungsgemäß ansteht. Doch hinter Schoigus Entlassung, der seit 2012 im Amt
war, steht offensichtlich mehr - immerhin dürfen andere hochrangige
Regierungsvertreter wie Ministerpräsident Michail Mischustin ihre Posten
behalten.

Viele Beobachter hatten schon im Vorfeld auf die Machtkämpfe zwischen
rivalisierenden Gruppen im russischen Militärapparat verwiesen. Nach dem Tod des
aufständischen Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin im vergangenen Sommer schienen
die zwar zwischenzeitlich etwas beiseite gewischt zu sein. Als aber vor wenigen
Wochen Schoigus Stellvertreter Timur Iwanow wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet
wurde, war sich manch einer sicher: Schoigus Stuhl wackelt.

Hinzu kommt, dass Putin angesichts der enormen Kriegskosten offenbar
bestrebt ist, die eigene Rüstungsindustrie auf Vordermann zu bringen. Dafür
scheint der 65-jährige Wirtschaftsfachmann Beloussow geeigneter als Schoigu.

Beloussow soll Russlands Kriegsfinanzierung sichern

Beloussow soll die Gelder im Rüstungssektor besser verwalten. Zudem soll er
Russlands Wirtschaft wohl auf einen langanhaltenden Konflikt ausrichten.
"Beloussow weiß, woher er das Geld für den Krieg nehmen kann", meint der
politische Analyst und frühere Redenschreiber Putins, Abbas Galljamow. Das
Kalkül besteht offenbar darin, mit einem Übergewicht an Soldaten, Material und
Waffen die ukrainische Armee doch noch zerschlagen zu können.

An der grundlegenden Ausrichtung des Kriegs wird sich mit Beloussows
Ernennung Experten zufolge aber wenig ändern. An der Front läuft es aus
russischer Sicht derzeit ohnehin gar nicht so schlecht: Seit Monaten hat
Russland im Osten der Ukraine schon die Initiative. Die ukrainische
Sommeroffensive des vergangenen Jahres ist weitgehend fehlgeschlagen. Der lange
Mangel an Munition und Waffen hat dazu geführt, dass Kiew seit Jahresbeginn
wichtige Stellungen verloren hat
- allen voran die zur Festung ausgebaute Kleinstadt Awdijiwka in
unmittelbarer Nähe der schon seit 2014 von prorussischen Kräften gehaltenen
Industriestadt Donezk.

In der vergangenen Woche begann Russland zudem mit einer neuen Großoffensive im Gebiet Charkiw - in der Hoffnung, die Verteidigungslinien dort vor Ankunft
amerikanischer Waffen und frischer ukrainischer Soldaten zu durchstoßen und
näher an die Millionenstadt vorzurücken. Bislang sind Moskau aber lediglich
Erfolge auf taktischer Ebene geglückt.

Schoigu wird Sekretär des nationalen Sicherheitsrats

Für Schoigu jedenfalls waren diese letzten Erfolge zu wenig, um das Image
des Verlierers loszuwerden, das er bei vielen Russen durch den schleppend
vorankommenden Krieg innehat. Dass Putin ihn nun zum Sekretär des
Sicherheitsrats macht, gilt immerhin als gesichtswahrende Lösung für den
langjährigen Weggefährten. Die beiden Männer verbindet eine enge Freundschaft,
mehrmals verbrachten sie sogar ihre Urlaube zusammen.

Manch einer sieht in dem neuen Amt sogar einen vielversprechenden
Karriereschritt: "Die Position des Sekretärs des Sicherheitsrats beinhaltet den
direkten Kontakt zum Präsidenten", zitierte etwa die Tageszeitung "Kommersant"
am Montag den Politologen Alexej Makarkin.

Nach 20 Jahren Amtszeit: Lawrow bleibt Außenminister

Seinen Platz in der Regierung behalten darf unterdessen Außenminister Sergej Lawrow - und das, obwohl er bereits seit 20 Jahren im Amt ist und einige mit
seinem Abgang mehr gerechnet hätten als mit dem Schoigus. Auch Lawrow, der einer
der dienstältesten Außenminister weltweit ist, ist ein enger Vertrauter Putins
und durch seine Loyalität für den Kremlchef von großer Bedeutung.

Früher genoss der heute 74-Jährige international ein hohes Ansehen; Kollegen schätzten seine Erfahrung, sein rhetorisches Talent und - trotz seiner oft
harten Haltung - seine diplomatische Professionalität. Doch der brutale
russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Lawrow immer wieder rechtfertigt,
lässt ihn in großen Teilen der Welt mittlerweile isoliert dastehen. Stattdessen
soll er wohl auch in den kommenden Jahren die diplomatischen Beziehungen zu
moskaufreundlichen Staaten wie China weiter ausbauen - ganz im Sinne einer vom
Krieg geprägten russischen Außenpolitik./haw/DP/men

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