15.05.2024 08:38:22 - dpa-AFX: VERMISCHTES: 'Ich bin außerordentlich beunruhigt' - Friedrich Nowottny wird 95

BONN (dpa-AFX) - Ein verschmitztes Lächeln und dann die knappe Ankündigung:
"Auf Wiedersehen - das Wetter." Wenn Friedrich Nowottny auf diese wohlvertraute
Manier den "Bericht aus Bonn" abschloss, dann ging der Fernsehzuschauer
anschließend mit der Gewissheit ins Bett, die Bundespolitik wieder einmal völlig
durchblickt zu haben.

Heute, viele Jahrzehnte später, erinnern in seiner Bonner Wohnung nur noch
ein paar Karikaturen an die große Zeit im Fernsehen. Alles andere hatte er
weggegeben. Fünf Jahre fehlen Friedrich Nowottny noch bis zum vollen
Jahrhundert: Am Donnerstag (16. Mai) wird der ehemalige Fernsehjournalist und
WDR-Intendant 95 Jahre alt. Er hat mittlerweile zwei Urenkel, Zwillinge im Alter
von zwei Jahren. "Wunderbar, herrlich", schwärmt er im Gespräch mit der
Deutschen Presse-Agentur. Aber die Freude über die beiden Jungen wird verdunkelt
durch den Krieg in der Ukraine. "Ich bin sehr besorgt, außerordentlich
beunruhigt", sagt er. Dabei spielt mit, dass er selbst mit 15 Jahren in Hitlers
sogenanntem "Volkssturm" in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs
eingesetzt wurde.

Nowottny ist eigentlich immer ein Mensch gewesen, der ganz im Jetzt gelebt
hat. Anders als so viele andere in die Jahre gekommene Prominente pflegt er nie
von seiner großen Zeit zu erzählen. Stattdessen will er sich über die aktuelle
Tagespolitik austauschen, die jüngsten Bundesligaspiele diskutieren oder
Neuigkeiten aus der Medienbranche hören. Diesmal aber ist es anders, diesmal
blickt er zurück. Weit zurück. Allein das ist ein Alarmzeichen.

Nowottny wurde 1929 in Oberschlesien im heutigen Polen geboren. Bis Anfang
1945, als die Rote Armee auf das Gebiet vorrückte, war dort relativ wenig vom
Krieg zu spüren gewesen. Dann aber wurde es ernst. "Das treibt mich jetzt
gelegentlich um. Eine der schlimmsten Erinnerungen für mich ist das Geräusch von
Panzern auf Straßen. Dieses unglaubliche Geräusch der Ketten auf Pflaster, das
habe ich immer im Ohr."

Ende Januar 1945 wurde Nowottny ebenso wie sein bis dahin freigestellter
Vater zum "Volkssturm" einberufen. "Ich weiß noch genau, wie mein Vater und ich
im Schützenloch nebeneinander standen, und mein Vater zog die Feldflasche raus
und sagte: "Komm, nimm einen kleinen Schluck, das wird dir guttun. Es ist so
kalt." Da habe ich den ersten Schluck Alkohol getrunken." In einer Frontzeitung
stieß der Vater auf eine Bekanntmachung, wonach alle Soldaten des Jahrgangs 1929
ins Sudetenland verlegt werden sollten. Mit Verweis auf diesen Befehl setzte der
Vater durch, dass Friedrich nicht an die Front kam. "Mein Sohn nicht!", beschwor
er einen Oberleutnant. "So erlebte ich dann den Abmarsch des Ersatzbataillons
mit meinem Vater. Zwei Wochen später war mein Vater gefallen." Er hingegen
konnte sich nach Passau durchschlagen. Dort wurde er erneut aufgegriffen und in
Hitlers Geburtsort Braunau am Inn stationiert. "Ausgerechnet!"

Nun aber kamen die Amerikaner. "Anyone here who speaks English?" Ja, da war
einer - denn Nowottnys Englischlehrer hatte ihn während seiner Schulzeit
getriezt wie sonst nur noch der Mathelehrer. "Das war meine Rettung, nun war ich
Dolmetscher. Captain Cox war der Stadtkommandant, mein Lebtag werde ich das
nicht vergessen."

Plötzlich hält er inne, setzt sich aufrechter hin und sagt, wie um sich
selbst zu disziplinieren: "Das ist alles lange her." Nach einer kurzen Pause
fügt er hinzu: "Und trotzdem, durch den Ukraine-Krieg steht mir diese Situation
jetzt wieder vor Augen. Wobei die Ukraine ganz anders ist. Die Zerstörungskraft
der heute üblichen Artillerie und Raketen ist unvergleichlich. Das sind
schreckliche Waffen. Ich kann nur sagen, hoffentlich bleibt uns das erspart und
meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln bleibt das erspart. Ich weiß nicht, wie das
alles enden könnte."

Hätte er es für möglich gehalten, dass er so etwas noch einmal erleben würde - einen Krieg in Europa? "Ich bitte Sie! Nein. Wer hat denn damit gerechnet nach
den Umarmungsszenen mit den Russen? Ich war bei Gorbi an seinem letzten
Arbeitstag." Nowottny war von 1985 bis 1995 Intendant des Westdeutschen
Rundfunks und als solcher auch für das ARD-Studio Moskau zuständig. Er besuchte
die russische Hauptstadt immer mal wieder zu Vertragsunterzeichnungen und
erlebte so auch ausschnittweise die Phase des großen Umbruchs mit: den Aufstieg
und Fall des letzten sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow, der ihm
scherzhaft einen "slawischen Rundschädel" attestierte. Als er Ende 1991 in
Gorbatschows Büro gekommen sei - "ein ganz kleines Büro, weil der Kreml
renoviert wurde" - habe der russische Präsident Boris Jelzin schon vor der Tür
gestanden, um ihn abzulösen. Es war nichts weniger als der Untergang der
Sowjetunion, der in dieser Szene Gestalt annahm und sich dem Zaungast aus
Deutschland für immer eingebrannt hat.

Friedrich Nowottny hat die gesamte Geschichte der Bundesrepublik bewusst
miterlebt. Die Verwurzelung der Demokratie, ihre Akzeptanz mit allen Skandalen
und Krisen, hält er für die größte Errungenschaft der Epoche. "Ich bin einer der
Letzten, die noch aus eigener Erfahrung wissen, dass Freiheit alles andere als
selbstverständlich ist", sagt er. Dann steht er auf, überraschend schnell für
einen Menschen seines Alters. Er müsse sich jetzt entschuldigen, sagt er. Seine
Frau brauche ihn./cd/DP/jha

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