26.05.2024 14:40:03 - dpa-AFX: HINTERGRUND: In Tschernihiw wirkt der Schrecken der Belagerung nach

TSCHERNIHIW (dpa-AFX) - Vor zwei Jahren hätte die Stadt Tschernihiw im
Norden der Ukraine beinahe das gleiche Schicksal erlitten wie Mariupol im Süden.
Der Gebietshauptstadt 200 Kilometer nördlich von Kiew drohte die Zerstörung. Vom
Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 bis Anfang April 2022 war
Tschernihiw fast vollständig eingekesselt. In 40 Tagen Blockade saßen die
Menschen in ihrer Stadt fest ohne Strom, Heizung und Wasser, mit wenig zu essen,
in Dauerangst vor Bomben.

In diesem Frühjahr ist Tschernihiw wieder eine beschauliche, grüne
Provinzstadt. Ein Teil der Schäden ist ausgebessert, doch der Schrecken sitzt
tief. "Jetzt greift die russische Armee bei Charkiw an, und wir machen uns
Sorgen", sagt Museumsmitarbeiterin Alla Harkuscha. Der Krieg rückt wieder näher.
Russland hat bei Charkiw im Osten eine neue Front eröffnet, dasselbe könnte in
Nachbarschaft von Tschernihiw im Gebiet Sumy passieren.

Die alten Kirchen standen schutzlos unter Bomben

Harkuscha und ihre Kollegen hatten bei Angriffsbeginn nur wenige Stunden, um ihre Schätze zu retten. "Wir haben die Exponate abgebaut und versteckt. Wir
konnten sie nicht mehr aus der Stadt bringen", erzählt die Abteilungsleiterin
beim Denkmalkomplex Alt-Tschernihiw. Wertvolle Ikonen verschwanden tief im
Keller.

Das einzigartige architektonische Erbe der Stadt stand schutzlos auf dem
Hochufer über dem Fluss Desna: viele mittelalterliche orthodoxe Kirchen und
Klöster, manche 1000 Jahre alt. "Die Geschosse flogen über uns hin und her",
sagt Harkuscha. Die Bauten belegen, wie bedeutend die Stadt im Großreich Kiewer
Rus war. Das Teilfürstentum Tschernihiw reichte nach Osten bis an die Wälder,
aus denen einmal das Fürstentum Moskau werden sollte.

Die alten Gotteshäuser entgingen 2022 der Zerstörung. "Die meisten Schäden
waren unbedeutend", sagt Harkuscha. An der Außenmauer des
Dreifaltigkeitsklosters gibt es Schrapnell-Spuren. Harkuscha schließt nicht aus,
dass die russischen Truppen zu Anfang des Krieges Rücksicht auf Kulturdenkmäler
nahmen. Später habe sich das geändert, sagt sie und verweist auf die 2023
zerschossene Hauptkirche von Odessa.

Eine kleine Brücke als Ausweg

Der Bevölkerung in Tschernihiw wurde übler mitgespielt. Am 3. März 2022
schlugen russische Bomben in Wohnhäuser an der Tschernowol-Straße im Zentrum
ein: 47 Tote. Am 16. März 2022 tötete eine Bombe 16 Menschen, die für Brot
anstanden. Während der Blockade kamen etwa 700 Menschen ums Leben, wie der
damalige Bürgermeister Wladyslaw Atroschenko sagte. Die Bevölkerung schrumpfte
von 285 000 Einwohner auf 95 000. Doch alle Fluchtwege waren gefährlich. Gegen
Ende blieb nur eine Fußgängerbrücke über die Desna als Ausweg. Aber auch dort
zeigen Einschusslöcher bis heute, wie riskant diese Route war.

Viktor Jerko (40), der heutige Bürgermeister Olexander Lomako und andere
Freiwillige verteilten Lebensmittel in der eingekreisten Stadt. Der
Elektroingenieur Jerko hat Erfahrung in Konflikten, er hat seit 2014 ukrainische
Truppen im Donbass in der Ostukraine versorgt. Aus einem Kaufhaus schleppten er
und seine Frau mit Erlaubnis der Polizei warme Kleidung zu Soldaten im
Verteidigungsring um Tschernihiw. "Wir haben uns auf einen Partisanenkampf
vorbereitet", erzählt der Vater zweier Kinder. Mit Öl und Benzin aus einer
Werkstatt bastelte er Molotow-Cocktails.

Der zerstörte Traum vom eigenen Sushi-Restaurant

Die Datscha der Jerkos am Stadtrand blieb heil. Aber in der Nähe sprengte
die ukrainische Armee die Brücke über den Fluss Stryschen, um die Russen zu
stoppen. Den Traum der Familie vom eigenen Sushi-Restaurant machte der Krieg
zunichte. Das gekaufte Lokal erlitt einen Treffer. Tetjana Jerko fertigt die
Fischröllchen nun zu Hause in der Küche und verkauft sie über Lieferdienste.

In den ersten Kriegsnächten verbarg sich Alla Harkuscha mit ihrem Enkel in
ihrem Museumsbüro. "Meine Generation hatte keine direkte Erfahrung mit Krieg",
sagt sie. Die Tage waren gefüllt mit der Suche nach Wasser oder Lebensmitteln.
"Ich hatte keine Eier. Wer welche wollte, musste stundenlang anstehen, nur um
zehn Stück zu kaufen", erzählt sie. Am schlimmsten seien die dunklen, kalten
Nächte gewesen: "Da schleicht sich eine Angst an, die lähmt."

Als die russischen Truppen den Vormarsch nach Kiew abbrachen und den Norden
der Ukraine räumten, atmete Tschernihiw auf. Nicht dass die Stadt danach von
schlimmen Angriffen verschont geblieben wäre: Im August 2023 tötete eine
russische Iskander-Rakete sieben Menschen; im April dieses Jahres kamen 18
Zivilisten durch Treffer mit Marschflugkörpern um.

Trotzdem ist das Leben wieder normaler. Schäden wurden behoben, auch mit
Hilfe aus dem Ausland. Derzeit finanziert die deutsche Gesellschaft für
internationale Zusammenarbeit (GIZ) den Bau einer neuen Wasserleitung. Die
Straßenbrücke über die Desna, aus der Luft zerstört, wurde durch einen Neubau
ersetzt. Die Gebietsverwaltung macht bei der Stadt Druck, die Besitzer
zerstörter Wohnungen schneller zu entschädigen.

Stadt gräbt neue Schützengräben

Tschernihiw hat in Absprache mit der Armee neue Verteidigungsstellungen
angelegt, falls wieder angegriffen wird. Bürgermeister Lomako will sich das
nicht als Verschwendung von Steuermitteln schlechtreden lassen. "Wenn es
notwendig ist, die Stadt zu verteidigen, machen wir das mit diesem schmutzigen
Brief, dem Gutachten des Nationalen Rechnungshofs?", fragte er erbost.

Aktivist Jerko sieht mit Sorge, wie sich die Lage der Ukraine zuletzt
verschlechtert hat - durch die Pause bei Waffenlieferungen aus den USA und
Europa, aber auch durch interne Probleme. "Wir kämpfen für unsere
Unabhängigkeit. Da müssten wir uns vereinen, Stadt, Land, die Führung", sagt er.
"Sonst geht alles verloren."

Solidarität mit Verteidigern von Mariupol

Sein Neffe Oleksij diente im umstrittenen ukrainischen Regiment Asow und
wurde bei Mariupol getötet, erzählt er. Deshalb geht Jerko samstags oft zu
Kundgebungen, auf denen die Freilassung der Asow-Kämpfer gefordert wird. Die
letzten Verteidiger von Mariupol hatten sich im Mai 2022 ergeben müssen; etwa
900 sind geschätzt noch in russischer Gefangenschaft. Im Zentrum von Tschernihiw
stehen einige Dutzend Menschen mit Plakaten "Freiheit für Asow"; Autofahrer
hupen solidarisch. Ihre Stadt ist bislang glimpflicher davongekommen als das
dauerhaft russisch besetzte Mariupol./fko/DP/he

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