23.05.2024 08:09:19 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Wandel beim Trinkgeld: Das 'Stimmt so' stirbt in Deutschland aus

BERLIN (dpa-AFX) - Es war einmal in Deutschland: ein simples "Stimmt so"
oder "Der Rest ist für Sie". Das sagten viele früher gönnerhaft bei der
Barzahlung und gaben der Kellnerin oder dem Kellner ein Trinkgeld, das den
Betrag oft nur ein wenig aufrundete. Heute, in Zeiten digitalen Bezahlens, ist
das anders. War Trinkgeld hierzulande früher nur in Restaurants oder bei
Dienstleistungen wie Friseur, Fußpflege oder Taxifahrt üblich, so wird man heute
auch an Orten aufgefordert, ein sogenanntes Tip zu geben, an denen das bislang
nicht normal war.

In einer Luxuskonditorei am Kurfürstendamm in Berlin zum Beispiel sind die
knallig blau unterlegten Optionen auf dem Touch-Display "7 %", "10 %" und "20
%". Erst bei genauem Hinsehen erkennt man, dass es auch "Freie Eingabe" und
"Kein Trinkgeld" als Option gäbe. Am hippen Hamburger-Stand, nicht weit
entfernt, kommuniziert das Kartengerät nur auf Englisch: "0 %", "10 %", "15 %",
"20 %", "25 %" sind als Tip möglich. 25 Prozent? Beim bloß über die Theke
gereichten Double Cheeseburger für 9,50 Euro sind das satte 2,38 Euro.

In den USA ist es oft so, dass viele Restaurants ihren Angestellten weniger
als den Mindestlohn zahlen, weil sie davon ausgehen, dass Trinkgeld-Einnahmen
die Differenz locker wettmachen. US-Forscher führen den in Amerika aktuellen
Trend zu viel höheren Beträgen beim sogenannten Tippen ("Tipflation") unter
anderem auf Corona zurück. Demnach zeigten sich Verbraucher in der Anfangszeit
der Pandemie generöser, um Lieferdienste, Restaurants und andere hart getroffene
Unternehmen zu unterstützen. Das verselbstständigte sich dann.

Doch warum hat sich auch in Deutschland die Trinkgeldkultur so verändert in
jüngster Zeit? Wieso wird man um ein Tip gebeten, wenn es eigentlich
Selbstbedienung ist? Vorbei scheint jedenfalls die Zeit von Trinkgeld-Bechern an
der Kasse, die leicht zu ignorieren waren.

Wenn Bezahlende nun öfter per Touchscreen Trinkgeld geben sollen, fühlen
sich in Deutschland viele geradezu genötigt, eine hohe Summe zu geben.
Wirtschaftswissenschaftler wie Christian Traxler von der Berliner Hertie School
nennen das "Nudging" (englisch für "anstupsen"). Das Verhalten der Kunden werde
gelenkt, gar manipuliert, sagt der Verhaltensökonom.

"Es wird oft nicht nur kommuniziert, dass ein Trinkgeld erwartet wird,
sondern auch, in welchem Rahmen es als angemessen angesehen würde", sagt
Traxler. Wenn programmierte Werte aber sehr hoch sind (für viele vielleicht
sogar unverschämt hoch), fallen zwar einzelne Tips tendenziell höher aus,
gleichzeitig aber sinke die Zahl der Leute, die überhaupt Trinkgeld geben. Ein
Drahtseilakt, da Kunden angestupst, aber nicht verprellt werden sollen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Sascha Hoffmann von der Hochschule Fresenius
in Hamburg sagt, der technische Kniff, beim Bezahlvorgang am Kartenlesegerät an
die Gabe eines Trinkgelds zu erinnern, sei für Servicekräfte und Gastronomen
extrem hilfreich. Hoffmann hat zu Trinkgeldhöhen geforscht. Er weiß, dass
Deutschland im Vergleich nach wie vor ein Bargeld-Land ist, doch der Anteil an
Karten- und Smartphone-Bezahlvorgängen wachse.

"Studien zeigen, dass bei Kartenzahlung im Großen und Ganzen weniger
Trinkgeld gegeben wird", sagt Hoffmann. "Das wirkt sich unmittelbar negativ auf
die Verdienstmöglichkeiten von Mitarbeitenden in der Gastronomie und anderen
Dienstleistungsberufen aus. Die Stundensätze sind dort ohnehin nicht besonders
hoch und die Angestellten sind besonders auf Trinkgelder als zusätzliche
Einkommensquelle angewiesen." Falle das Tip weg, werden die Branchen laut
Hoffmann womöglich noch unattraktiver, was den Arbeitskräftemangel in
Serviceberufen weiter verschärfen könne (speziell in der Gastronomie).

Schon immer war es für viele Kundinnen und Kunden Stress, vor den Augen
einer Servicekraft und gegebenenfalls weiterer Gäste eine gut gerundete
Trinkgeldhöhe auszurechnen. Neben Kopfrechenproblemen kämen soziale Normen ins
Spiel, da sich die meisten "richtig verhalten" und nicht als knauserig
wahrgenommen werden wollten.

Die vermeintliche Hilfe der Kartenlesesysteme, die nun auch in Branchen zum
Zuge kommen, in denen Trinkgeldgeben bislang unüblich war (beispielsweise in
Bäckereien), könne jedoch problematisch sein, betont Hoffmann. "Insgesamt ist
die Gefahr groß, dass Kunden durch die Vorgabe von Trinkgeldhöhen zu einem
Verhalten verleitet werden, das sie gar nicht wollen. Heißt: Sie sehen die
Vorgaben in der akuten Entscheidungssituation zwar vielleicht als entlastend an,
ärgern sich aber im Nachhinein, dass sie zu viel Trinkgeld gegeben haben."

Wenn statt beispielsweise 5, 10 und 15 Prozent gleich 10, 15 und 20 Prozent
als Optionen im Raum stehen, könne über den aus der Psychologie bekannten "Hang
zur Mitte" eine überhöhte Trinkgeldgabe ausgelöst werden. Auch der Decoy Effect
(Köder-Effekt) könne zuschlagen. Wird eine Trinkgeldhöhe absichtlich absurd hoch
angesetzt, dann wirken die anderen Vorschläge, die eigentlich ebenfalls zu hoch
sind, plötzlich angemessen.

Sogenannte Dark Patterns (manipulative Designgestaltungen) nutzen diese
Psycho-Effekte (Hang zur Mitte und Köder-Effekt) aus und können Konsumenten
täuschen. Suggestive Designs sind sonst etwa im Online-Marketing verbreitet,
wenn versucht wird, die Zustimmung von Website-Besuchern für das Setzen von
Marketing-Cookies einzuholen.

Die meisten Tip-Probleme rühren aber wohl von der sozialen Norm her, dass
über Geld und damit auch die Höhe des Trinkgelds nicht offen gesprochen wird -
schon gar nicht, wenn man als Geizhals gelten könnte./gth/DP/jha

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