18.06.2024 10:03:37 - dpa-AFX: POLITIK/Nicht vor, nicht zurück: Palästinenser aus Gaza stranden in Kairo

KAIRO/GAZA (dpa-AFX) - Bis zum errechneten Geburtstermin sind es nur noch
ein paar Tage. Aber wer ihre Entbindung bezahlen soll, weiß Riham nicht. Seit
ihrer Flucht aus Gaza - damals im sechsten Monat schwanger - habe sie die
palästinensische Botschaft in Ägypten vergeblich um Hilfe gebeten. "Ich habe nur
Versprechungen bekommen, dass alles gut sein wird", sagt die 28-Jährige, die in
Wirklichkeit anders heißt. "Jetzt soll ich in einer Woche ein Kind zur Welt
bringen - und es ist nichts passiert."

Mehr als 100 000 Palästinenser sind seit Kriegsbeginn ins benachbarte
Ägypten geflüchtet - und gestrandet, die meisten davon in Kairo. Zurück nach
Gaza können sie nicht. Vorwärts in ein neues Leben oft auch nicht. Die wenigsten
haben die nötigen Papiere oder das Geld, um eine Wohnung zu mieten, ein
Bankkonto zu eröffnen, Arztkosten zu zahlen, ihre Kinder zur Schule zu schicken.

"Kein Geld, keine Arbeit"

"Ich habe kein Geld, keine Arbeit, ich werde nicht leben können", sagt
Riham. Wie alle Palästinenser in diesem Text will sie ihren echten Namen nicht
in den Nachrichten lesen. Nach Kairo kam Riham mit ihrem drei Jahre alten Sohn
und ihrer an Brustkrebs erkrankten Schwiegermutter. Für die Ausreise ihres
Mannes, die derzeit über umstrittene ägyptische Reiseanbieter 5000 US-Dollar
kosten würde, fehlte das Geld. Immerhin, die palästinensische Botschaft zahlt
den dreien eine Wohnung. Noch.

Weil das Palästinenserhilfswerk UNRWA kein Mandat für Flüchtlingshilfe in
Ägypten hat, sind die Betroffenen nicht als Flüchtlinge registriert. Mangels
Aufenthaltsstatus bewegen sie sich in einer rechtlichen Grauzone - geduldet, im
Häusermeer von Kairo mit seinen 23 Millionen Einwohnern oft unsichtbar, meist
angewiesen auf sich selbst oder die Hilfe anderer Palästinenser und
Freiwilliger. Die Frage nach ihrem Aufenthaltsstatus sei "die Mutter aller
Probleme", sagt der palästinensische Botschafter in Ägypten, Diab al-Louh, der
dpa.

"Allein und die meiste Zeit auf der Straße"

"Ich kam vor zwei Wochen an", erzählt der 19 Jahre alte Chalid, der in Gaza
einen kleinen Supermarkt betrieb. "Ich bin allein und lebe die meiste Zeit auf
der Straße." Nach einem Bombenangriff lag er in Gaza drei Tage lang unter
Trümmern, wurde schwer an Arm und Schulter verletzt und hat sein rechtes Auge
verloren. "Ich habe kein Geld. Ich weiß nicht, wo ich hin soll." Auf seinem
Handy hat er ein Video von dem Moment, als Helfer ihn aus den Trümmern ziehen,
sein Gesicht ist unter Blut und Staub kaum zu erkennen.

Es sind Krebspatienten dabei, traumatisierte Kinder und Jugendliche,
Menschen mit amputierten Beinen und Armen, mit Verbrennungen. Salma, die unter
Trümmern schwere Quetschungen erlitt, sagt, ägyptische Ärzte reichten sie herum
"wie einen Ball". Die staatlichen Krankenhäuser sind ohnehin schlecht
ausgestattet, Angestellte unterbezahlt. Eine gute Versorgung können auch sie
kaum leisten.

Ein paar Autostunden entfernt tobt der Krieg. Ausgelöst durch den
Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober auf Israel, mittlerweile mit - nach
palästinensischen Angaben - 37 232 getöteten Palästinensern und 85 037
Verletzten. Der Krieg könnte, so sagte es Israels Nationaler Sicherheitsberater,
noch ein halbes Jahr dauern. Oder länger.

Humanitäre Versorgungslücke

Ein Netzwerk aus Freiwilligen versucht inzwischen, die humanitäre
Versorgungslücke ein wenig zu schließen. Darunter ist die zweifache Mutter mit
Vollzeitjob, die Lagerplätze für gespendete Hilfsgüter sucht. Ärztinnen, die
Kollegen über Whatsapp-Gruppen um vergünstigte Behandlungen bitten. Ein
Unternehmer, der in einem Kairoer Randbezirk leere Wohnungen anmietet und
bewohnbar macht.

Einer der Ersten war John Flynn, bekannt als Quinn, der nach dem 7. Oktober
kurzfristig aus den USA nach Ägypten reiste. Auf seine Tiktok-Videos zur Reise
hätten sich etliche User gemeldet, ihm ein Bett angeboten, sein Flugticket
zahlen wollen, erzählt er. Inzwischen ist er zu einer Art Graswurzel-Botschafter
geworden, der alle vernetzt.

Medizin, Geld für die Miete, Kleidung, Windeln

Ähnlich eine 28-Jährige, die im November ein Flugticket aus Kanada buchte.
Sie dachte, sie würde einen Monat lang bleiben. Heute ist sie immer noch in
Kairo und hilft dabei, Familien täglich mit dem Nötigsten zu versorgen.
Inzwischen sollen es schätzungsweise 1600 Freiwillige sein, darunter auch
Menschen in Irland, Malaysia oder Südafrika, die virtuell helfen, etwa
Rechtsfragen zu beantworten oder Datenbanken zu pflegen.

Woher das Geld kommt, wird nicht immer klar. Ein Pakistani sagt, die 600 000 Euro für 29 Krankenwagen, die er aus Deutschland nach Gaza brachte, hätten meist
"Einzelpersonen" finanziert, teils aber auch Hilfsorganisationen. Oft kommt das
Geld von Hilfswerken aus dem Ausland, teils von Online-Spendenkampagnen. "Ich
habe ein Problem damit, Geld in der Hand zu halten, dessen Ursprung ich nicht
kenne", sagt eine Freiwillige.

Mittel "komplett erschöpft"

Flynn ist schon weiter nach London, wo er 300 000 US-Dollar von Spendern
sammeln will, unter anderem für den Bau eines Gemeindezentrums in Kairo als
erste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus Gaza. Die Mittel seien "komplett
erschöpft", sagt er.

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die im Westjordanland über
beschränkte Macht verfügt, habe wegen "Israels Besatzung" kein Geld, sagt
Botschafter Al-Louh. "Wir sind zu 100 Prozent auf gemeinnützige Einrichtungen
und Vereine angewiesen." In diesen Tagen bemüht er sich bei Ägyptens Regierung
um ein befristetes Aufenthaltsrecht für Palästinenser, damit sie legal arbeiten
und ihre Kinder zur Schule schicken können, zumindest für die Dauer des Kriegs.

Ein Monat Wartezeit für kostenloses Milchpulver

Im Osten Kairos haben Freiwillige ein paar leerstehende Wohnungen in eine
Kleiderkammer verwandelt, sie ziehen Jeans aus Kartons, sortieren Turnschuhe für
Kinder und hängen Blusen an Kleiderständern auf. "Herzlich willkommen in der
Pali Boutique", steht auf einem ausgedruckten Zettel an der Wand, darunter die
Flaggen Ägyptens und Palästinas.

"Wir sind einfach komplett überwältigt von der Zahl an Menschen", sagt
Helferin Jennifer Mina. Um hier an Kleidung oder Milchpulver zu kommen, muss man
sich auf einer Liste eintragen, Wartezeit aktuell ein Monat und länger. 90
Prozent der Freiwilligen seien Palästinenser, sagt Mina, die aus den USA stammt
und schon lang in Ägypten lebt. "Die meiste Arbeit", sagt sie über die
Palästinenser, "machen sie selbst."/jot/DP/mis

© 2000-2024 DZ BANK AG. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen | Impressum
2024 Infront Financial Technology GmbH