23.05.2024 13:00:56 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Israel in der Isolation: Zwischen Trotz und Durchhaltewillen

TEL AVIV/GAZA (dpa-AFX) - Nach dem schlimmsten Massaker in Israels
Geschichte am 7. Oktober vergangenen Jahres erlebte das Land zunächst eine
starke Welle internationaler Anteilnahme und Solidarität. Doch seit fast acht
Monaten tobt der Krieg im Gazastreifen. Und je länger die Angriffe und Kämpfe
mit ihren hohen zivilen Opferzahlen und schweren Verwüstungen in dem
Küstenstreifen am Mittelmeer andauern, desto isolierter steht Israel weltweit
da. Der Hamas-Terror und der Krieg haben gleichzeitig eine enorme Welle des
Antisemitismus ausgelöst, die bei Juden auf aller Welt schwere Ängste
verursacht.

Der Antrag auf Haftbefehle gegen den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu
und Verteidigungsminister Joav Galant, den der Chefankläger des Internationalen
Strafgerichtshofs in Den Haag gestellt hat, ist der bisherige Tiefpunkt des
ständigen Abwärtstrends für Israel. Im Land wird mittlerweile täglich darüber
diskutiert, wie man diesen überwinden kann. Viele Israelis drücken aus, dass sie
sich ungerecht behandelt fühlen.

Sollte der Internationale Strafgerichtshof dem Antrag für die Haftbefehle
folgen, wäre Netanjahus Bewegungsfreiheit vor allem in westlichen Ländern
erheblich eingeschränkt. Professor Jonathan Rynhold, Leiter der Politikabteilung
der Universität Bar Ilan bei Tel Aviv, verweist allerdings darauf, dass auch die
Opposition in Israel der Ansicht sei, das Verhalten des Strafgerichtshofs sei
"empörend". Dies sei auch die Position der USA. "Selbst europäische Länder, die
das Gericht normalerweise unterstützen, haben die Gleichsetzung der
Terrororganisation Hamas mit dem demokratischen Staat Israel als Fehler
bezeichnet", sagte Rynhold.

Anerkennung Palästinas zeigt Verschlechterung von Israels Ansehen

Die angekündigte Anerkennung Palästinas als eigenen Staat durch Norwegen
sowie die beiden EU-Länder Irland und Spanien gilt als weiterer diplomatischer
Rückschlag für Israel. Netanjahu verurteilte den Schritt als "Belohnung für
Terrorismus". Die israelische Zeitung "Jediot Achronot" stufte die Entscheidung
der europäischen Länder als "Beweis für die ernsthafte Verschlechterung des
internationalen Ansehens" des jüdischen Staates ein.

Wohin man blickt, sieht es trübe aus für Israel: Die Beziehungen zum
wichtigsten Bündnispartner USA sind belastet, Israels Einsatz in der Grenzstadt
Rafah gilt als Gefahr für den Friedensvertrag mit Ägypten, vor dem
Internationalen Gerichtshof muss Israel sich zudem wegen des Vorwurfs des
Völkermords verantworten. Dazu kommen propalästinensische - teilweise auch
israelfeindliche - Studentenproteste an Universitäten in den USA und Europa.
Beim Eurovision Song Contest (ESC) in Malmö schlug der israelischen Kandidatin
Eden Golan blanker Hass entgegen. Die Türkei setzte derweil den Handel mit
Israel aus und behandelt mehr als 1000 Hamas-Mitglieder in ihren Krankenhäusern.
Auch israelische Akademiker, Künstler und Sportler beklagen wachsende Anzeichen
eines internationalen Boykotts.

Netanjahu: Wir können auch für uns alleine stehen

Die Reaktionen Netanjahus auf den internationalen Druck wirken dabei
mitunter fast trotzig. "Wenn wir für uns alleine stehen müssen, dann werden wir
für uns alleine stehen", sagte er, nachdem US-Präsident Joe Biden wegen des
israelischen Vorstoßes in Rafah mit einer Einschränkung gewisser
Waffenlieferungen gedroht hatte. Notfalls werde man sich eben "mit den
Fingernägeln" verteidigen, so Netanjahu.

Auch innerhalb Israels sind die Proteste gegen Netanjahus Regierung wieder
aufgeflammt. Die Demonstranten werfen dem Ministerpräsidenten und seinen
rechtsextremen Koalitionspartnern vor, Israel in den Abgrund zu treiben. Sie
fordern eine rasche Rückholung der mehr als hundert Geiseln der Hamas aus dem
Gazastreifen und Neuwahlen.

Machtbasis wichtiger für Netanjahu als globales Ansehen

Netanjahu erscheint dabei zerrissen zwischen seinen persönlichen politischen Interessen - die Ultrarechten gelten als Garant für sein politisches Überleben -
und den breiteren Interessen des Landes. Radikale Äußerungen seiner politischen
Partner haben ihn immer wieder in die Bredouille gebracht und sind gefundenes
Futter für Israel-Kritiker. Dennoch hat Netanjahu sich nur selten von ihnen
distanziert.

Rynhold sieht das Verhalten der israelischen Regierung, die über Monate
nicht genug getan habe, um humanitäre Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu
lassen, als einen der Gründe für die Isolation des Landes. "Dies hat unsere
Freunde - die USA, Großbritannien und Deutschland - vor den Kopf gestoßen",
erklärt er. "Aber die Ansicht der Welt ist für Netanjahu auf jeden Fall weniger
wichtig, als an der Macht zu bleiben und seine Basis und ultrarechten
Koalitionspartner zu bedienen."

Mögliche Auswege aus der Sackgasse

Gibt es für Israel einen Ausweg aus diesem Schlamassel? Yonatan Freeman,
Experte für internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität in
Jerusalem, hält eine Verbesserung durchaus für möglich. "Wenn es einen Deal (mit
der Hamas) über die Freilassung der Geiseln gibt, wird der Krieg wahrscheinlich
enden, obwohl die Hamas weiter eine große Bedrohung darstellt", sagt er.

Als Möglichkeit für eine Nachkriegsregelung in Gaza sieht Freeman eine
Einbindung gemäßigter arabischer Staaten. Dass Netanjahu sich bislang hartnäckig
weigert, über den "Tag danach" im Gazastreifen zu sprechen, sorgt bei Israels
Verbündeten und auch bei gemäßigten Regierungsmitgliedern für große Frustration.

"Wir brauchen eine neue Regierung", glaubt Rynhold. Gleichzeitig sieht er
einen Sieg über die Hamas als absolute Notwendigkeit. "Wir müssen den Einsatz in
Rafah abschließen. Wir müssen die ganze Wut, die gegen uns gerichtet ist,
aushalten." Danach müsse Israel eine echte Anstrengung unternehmen, mit einer
neuen Regierung eine palästinensische Verwaltung im Gazastreifen einzurichten,
"die besser für die Palästinenser und besser für die Israelis ist". Diese müsse
mit der Palästinensischen Autonomiebehörde verbunden sein "und eine Agenda
verfolgen, die letztendlich zu einer Zweistaatenlösung führt". Genau dies
verweigert Netanjahu jedoch beharrlich./le/DP/ngu

--- Von Sara Lemel, dpa ---

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