09.07.2024 14:17:48 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Ein Nato-Gipfel im Schatten von Putin und Trump

WASHINGTON (dpa-AFX) - Wenn an diesem Mittwoch nach dem großen Festakt zum
75. jährigen Bestehen der Nato für Bundeskanzler Olaf Scholz und die anderen
Staats- und Regierungschefs die eigentliche Arbeit beginnt, werden zwei Personen
das Geschehen mitbestimmen, die gar nicht anwesend sind. Die eine heißt Wladimir
Putin und hat dem westlichen Verteidigungsbündnis mit seiner militärischen
Aggression gegen die Ukraine einen zweiten Frühling beschert. Die andere heißt
Donald Trump und steht für die Ungewissheit und die Sorgen, vor denen das
Bündnis trotz der neuen Bedeutung wegen des brutalen Kriegs inmitten Europas
steht.

Würde es die Verteidigungsallianz überleben, wenn Trump nach vierjähriger
Pause wieder US-Präsident werden sollte? Und wenn nicht, wie würde die Welt
danach aussehen?

Auf all diese Frage wird es beim Nato-Gipfel keine Antwort geben. Fest steht aber, dass sich Trumps Chancen, die US-Präsidentenwahl im November zu gewinnen,
in den vergangenen Tagen vergrößert haben. Nach dem desaströsen Auftritt seines
demokratischen Kontrahenten Joe Biden bei einer TV-Debatte Ende vor einigen
Tagen legte Trump in Umfragen zu. Der Republikaner, der von 2017 bis 2021
Präsident war, konnte seinen Vorsprung vor Biden ausbauen. Sollte Biden beim
Gipfel eine schlechte Figur machen, könnte dies Trump weiter Rückenwind
verschaffen.

Über den Kopf der Ukraine hinweg mit Russland verhandeln

Sorgen bereitet eine mögliche Wiederwahl von Trump zum einen wegen der
Ukraine. Der Republikaner behauptete im US-Wahlkampf mehrfach, den russischen
Angriffskrieg in 24 Stunden beenden zu können. Klar ist allerdings, dass er der
Ukraine nicht mit zusätzlicher militärischer Unterstützung zum Sieg gegen
Russland verhelfen will.

Das Online-Portal "Politico" berichtete unter Berufung auf das Umfeld des
Republikaners, Trump denke über eine Art Deal nach, bei dem sich die Nato
verpflichte, nicht weiter nach Osten zu expandieren. Gleichzeitig wolle er mit
dem russischen Präsidenten Wladimir Putin darüber zu verhandeln, wie viel
ukrainisches Territorium Moskau behalten könne. Aus Sicht der meisten
europäischen Staaten wäre ein solches Vorgehen ein ungeheuerlicher und zugleich
brandgefährlicher Tabu-Bruch. Putin könnte dann nämlich seinen Krieg als Erfolg
verbuchen und zu weiteren Aggressionen verleitet werden.

Infragestellen der Beistandsverpflichtung

Weiterer Anlass zur Sorge sind für viele die Erfahrungen mit dem
Republikaner in dessen Amtszeit von 2017 bis 2021 und die jüngsten Äußerungen
aus dem Wahlkampf. In seiner ersten Amtszeit wetterte Trump immer wieder über
die seiner Ansicht nach zu niedrigen Verteidigungsausgaben von europäischen
Alliierten und drohte zeitweise sogar mit einem Austritt der USA aus dem
Bündnis. Im jüngsten Wahlkampf wiederholt er diese Vorwürfe und stellt die USA
unter Biden als ein Land dar, das sich von europäischen Abzockern ausnehmen
lasse.

Anfang des Jahres drohte Trump Nato-Ländern, die ihren finanziellen
Verpflichtungen nicht nachkämen, keinen amerikanischen Schutz mehr zu
gewährleisten - und ermutige Russland geradezu, mit ihnen zu tun, was immer es
wolle. Und in einem Interview mahnte er: Man dürfe nicht vergessen, dass die
Nato wichtiger für Europa sei als für die USA, denn es liege ein Ozean, "ein
schöner, großer, herrlicher Ozean" zwischen den USA und "einigen Problemen" in
Europa.

Problematisch ist all dies, weil die Nato als Verteidigungsbündnis auf das
Prinzip Abschreckung setzt. Für dieses ist Artikel 5 des Nordatlantikvertrags
relevant. Er regelt die Beistandsverpflichtung in der Allianz und besagt, dass
ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Alliierte als ein Angriff gegen
alle angesehen wird.

Nato will Trump-sicher werden

Wie groß die Nervosität ist, zeigen die aktuellen Bemühungen, zumindest die
Ukraine-Unterstützung ein Stück weit Trump-sicher zu machen. So will die Nato
künftig die internationale Koordinierung von Waffenlieferungen und Ausbildung
für die ukrainischen Streitkräfte übernehmen - für den Fall, dass die
Amerikaner, die diese Aufgabe bislang wahrnehmen, unter Trump ihr Engagement
zurückfahren sollten.

Zugleich ist man sich im Bündnis bewusst darüber, dass ein Totalausfall des
Bündnispartners USA nicht zu kompensieren wäre. So werden die Vereinigten
Staaten nach aktuellen Nato-Zahlen in diesem Jahr rund 968 Milliarden US-Dollar
für Verteidigung ausgeben und damit fast doppelt so viel wie die europäischen
Alliierten und Kanada zusammen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gibt sich allerdings dennoch
zuversichtlich und verweist auf die positiven Entwicklungen in den vergangenen
Jahren. "Ich erwarte, dass die USA ein starker Verbündeter bleiben, unabhängig
vom Ausgang der US-Wahlen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur kurz vor dem
Gipfel. Ein Grund sei, dass die Nato auch die USA stärker und sicherer mache.
Zudem gebe es eine starke parteiübergreifende Unterstützung für die Nato im
US-Kongress und in der US-Öffentlichkeit und europäische Alliierte hätten
zuletzt viel getan. "Heute ist es so, dass 23 Alliierte zwei Prozent ihres
Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben - im Vergleich zu dreien im Jahr
2014, als wir das Zwei-Prozent-Ziel vereinbart haben", sagte er. "Dies zeigt,
dass die USA die Last nicht allein tragen."/aha/DP/mis

--- Von Magdalena Tröndle und Ansgar Haase, dpa ---

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