17.05.2024 06:30:04 - dpa-AFX: ROUNDUP: Ukraine wehrt sich an neuer Front bei Charkiw - Die Nacht im Überblick

KIEW (dpa-AFX) - Die Ukraine müht sich weiter, den russischen Angriff an
ihrer Ostgrenze im Gebiet Charkiw zu stoppen. Die schwersten Gefechte gebe es
bei den Orten Lipzy und Wowtschansk, teilte der ukrainische Generalstab im
Lagebericht für Donnerstagabend mit. Die russische Offensive werde von
Kampfflugzeugen durch den Abwurf von Gleitbomben unterstützt. Zugleich heiß es:
"Die Einheiten der Verteidigungskräfte halten die Linie und verhindern, dass die
Angreifer in die Tiefen unseres Territoriums vordringen." Unabhängige
Bestätigungen dafür gab es nicht.

Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste am Donnerstag in die Nähe der neuen
Front und beriet mit den Militärs. Die Nacht auf Freitag begann für die
östlichen Gebiete der Ukraine mit Luftalarm. Der Luftwaffe zufolge waren mehrere
Schwärme russischer Kampfdrohnen im Anflug. In der Millionenstadt Charkiw waren
nach Medienberichten Explosionen zu hören. Die Ukraine wehrt seit Februar 2022
eine großangelegte russische Invasion ab, am Freitag wird der 814. Tag des
Krieges gezählt.

Ukraine spricht von hohen russischen Verlusten bei Charkiw

Der russische Angriff nahe Charkiw hatte vergangene Woche begonnen. Relativ
schnell besetzten die russischen Kräfte mehrere Dörfer an der Grenze. Ihr
Vorstoß wurde dadurch begünstigt, dass die Ukraine ihre westlichen Waffen nicht
gegen den Truppenaufmarsch jenseits der Grenze einsetzen durfte. Auch waren die
vorderen Verteidigungsstellungen nicht so ausgebaut, wie es eigentlich
angeordnet war. Wie an anderen Frontabschnitten gehe die russische Armee auch
bei Charkiw ohne Rücksicht auf hohe eigene Verluste vor, teilte der Generalstab
in Kiew mit.

Bei Wowtschansk etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw sei es gelungen,
die Lage zu stabilisieren, sagte Selenskyj nach seinem Frontbesuch. "Unsere
Gegenangriffe dauern an, ebenso wie in anderen Gebieten entlang der Grenze zu
Charkiw", sagte er. Besonders heftige russische Angriffe verzeichnete das
ukrainische Militär weiter südlich bei Pokrowsk.

Nato-Befehlshaber rechnet nicht mit russischem Durchbruch

Der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Christopher Cavoli, rechnet indes nicht mit einem strategischen Durchbruch der russischen Armee bei Charkiw. "Sie sind
in der Lage, lokale Vorstöße zu machen, und das haben sie auch getan. Sie haben
aber auch einige lokale Verluste erlitten", sagte er nach einem Treffen des
Nato-Militärausschusses in Brüssel. Die Russen hätten nicht genug Streitkräfte,
um einen strategischen Durchbruch zu erreichen. "Ich stehe in sehr engem Kontakt
mit unseren ukrainischen Kollegen, und ich bin zuversichtlich, dass sie die
Linie halten werden."

Selenskyj klagt über Putins "leere Worte" zu Frieden

"Russland versucht, den Krieg auszuweiten, und begleitet ihn stets mit
leeren Worten über den Frieden", sagte Selenskyj. Er reagierte damit auf
Aussagen von Präsident Wladimir Putin bei dessen China-Besuch. Moskau und Peking
nannten dort eine politische Einigung als geeigneten Ausweg aus dem Krieg, ohne
dies näher zu erläutern. "Wir müssen Russland mit allen Mitteln zu einem echten,
gerechten Frieden zwingen", sagte Selenskyj dagegen.

In einem Telefonat mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk warnte Selenskyj vor der Gefahr für Europa durch russische Luftangriffe auf die
Gasinfrastruktur seines Landes. "Dagegen müssen wir gemeinsam vorgehen", sagte
er. Die russische Luftwaffe hatte Ende März mit Marschflugkörpern und Raketen
die oberirdischen Anlagen eines großen unterirdischen Gasspeichers in der
Westukraine beschossen. Trotz des Krieges leitet die Ukraine bis Ende 2024 noch
russisches Gas in die EU durch. Sie nutzt die Speicher selber und bietet sie den
EU-Nachbarländern an.

Monatelange Stromabschaltungen in der Ukraine nach Angriffen

Wegen der schweren Schäden an Kraftwerken und Umspannwerken in der Ukraine
rechnet die Regierung mit monatelangen Stromabschaltungen. Erst ab August oder
September sei mit einer Verbesserung zu rechnen, sagte Jurij Bojko, Berater des
Ministerpräsidenten und Aufsichtsrat beim Versorger Ukrenergo (Ukrenerho), am
Donnerstag in Kiew. Wie schon am Mittwoch gab es auch am Donnerstag regional
gestaffelte Abschaltungen, um Strom zu sparen. Auch Straßenzüge in der
Hauptstadt Kiew waren betroffen.

Im Angriffskrieg gegen die Ukraine hatte die russische Armee im März und
April gezielt Kraftwerke, Umspannwerke und Stromleitungen aus der Luft
beschossen. Die Produktionskapazität sank nach offiziellen Angaben um 44
Prozent. Die Stromproduktion aus Kohlekraftwerken ging fast vollständig
verloren. Auch Wasserkraftwerke am Dnipro wurden beschädigt. Die Aussichten auf
rasche Reparaturen sind schlecht. Die Stromproduktion aus Kernkraft funktioniert
weitgehend. Auch Energieimporte aus Nachbarländern reichen nicht immer aus, die
Lücke zu schließen.

Lage im AKW Saporischschja gespannt

Die Lage im russisch besetzten Atomkraftwerk Saporischschja in der
Südukraine bleibt nach Einschätzung der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA
weiter gespannt. Das sagte der Leiter der UN-Behörde, Rafael Grossi, in Wien.
Die IAEA tauschte ein weiteres Mal ihr Team von Experten aus, die in der größten
Nuklearanlage Europas Wache halten. "Die potenziellen Gefahren für die Anlage
dauern an, und die Situation kann sich jeden Moment verändern.", sagte Grossi.

Die Experten hätten in den vergangenen Tagen Artilleriefeuer weiter weg und
Gewehrfeuer dichter am Werk gehört. Soweit sie das Werksgelände betreten
dürften, hätten sie bei Kontrollgängen keine schweren Waffen in dem AKW gesehen.
Es gebe auch keine Hinweise, dass vom Werksgelände Drohnen gestartet worden
seien. Russland und die Ukraine werfen einander immer wieder vor, die Atomanlage
zu beschießen./fko/DP/zb

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