17.05.2024 06:26:50 - dpa-AFX: POLITIK/No Sex, Please: Britische Regierung will spätere Sexualerziehung

LONDON (dpa-AFX) - Let's Talk About Sex, Baby? Der Titel des Hits von
Salt-N-Pepa gilt nicht in Großbritannien, jedenfalls wenn es nach der
konservativen Regierung von Premierminister Rishi Sunak geht. Eine neue
Richtlinie macht Schulen unmissverständlich klar, wann sie ihren Schülerinnen
und Schülern welche Teile der Sexualerziehung beibringen sollen. Kurzversion:
Möglichst spät. Kritiker sind empört und werfen den Konservativen vor, das Thema
für den Wahlkampf zu missbrauchen. Anstatt an den Pop-Schlager von 1991 denken
sie angesichts der strengen Vorgaben eher an den Titel einer Komödie aus den
1970ern: "No Sex Please, We're British".

Die Altersvorgaben von Bildungsministerin Gillian Keegan sollen
sicherstellen, dass Kinder nicht "zu früh zu vielem ausgesetzt" werden. Demnach
soll in Schulen frühestens und rein wissenschaftlich über Fortpflanzung
gesprochen werden, wenn Kinder neun Jahre alt sind. Das entspricht der fünften
Klasse. Themen wie sexueller Missbrauch, Rachepornos, Stalking und
Zwangsverheiratung sollen nicht vor der siebten Klasse (11 Jahre) unterrichtet
werden. Und die Einzelheiten sexueller Handlungen wie Geschlechtsverkehr sind
nicht vor der neunten Klasse (13 Jahre) dran. Über Themen wie Transidentität
soll gar nicht mehr gesprochen werden. Begründung: zu umstritten.

"Eltern können ein für alle Mal beruhigt sein, dass ihre Kinder nur
altersgerechte Inhalte lernen", sagte Keegan. Vor allem betont die Regierung,
dass Eltern umfassend Einsicht in Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien erhalten
sollen. "Dieser aktualisierte Leitfaden stellt den Schutz von Kindern in den
Mittelpunkt und verankert das Recht der Eltern, zu wissen, was ihren Kindern
beigebracht wird", betonte die Ministerin.

"Bildung verhindert Missbrauch"

Viele Experten halten von der neuen Regelung wenig. Ihre Furcht: Dass Kinder in einer Gesellschaft, in der Sex immer prominenter zur Sprache kommt und
sexuelle Inhalte vor allem wegen des Internets immer einfacher zugänglich sind,
zu lange alleingelassen werden.

Die Kinderschutzorganisation NSPCC betonte, vielmehr müsse die Regierung
Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen, zu erkennen, wenn etwas nicht
stimmt, und notfalls Hilfe zu suchen. "Bildung ist einer unserer stärksten Hebel
zur Verhinderung von Kindesmissbrauch", sagte ein Sprecher.

Die Chefin der Organisation Sex Education Forum, Lucy Emmerson, warnte:
"Wenn Themen eingeschränkt würden, wären Minderjährige noch stärker darauf
angewiesen, Antworten zu Themen wie Pornografie, kontrollierendem Verhalten und
sexuell übertragbaren Krankheiten aus Online-Quellen zu erhalten." Die Kampagne
End Violence Against Women Coalition betonte, Aufklärung sei ein "Eckpfeiler der
Prävention von Gewalt gegen Frauen und Mädchen".

Doppelt so viele Teenagerschwangerschaften wie in Deutschland

Einer Studie der britischen Kinderschutzbeauftragten zufolge sehen Kinder
durchschnittlich im Alter von 13 Jahren erstmals Pornografie, ein Drittel sogar
mit 11. Die Zahl der Teenagerschwangerschaften in England und Wales ist zwar
seit 2011 deutlich gesunken. Mit gut 13 je 1000 weiblichen Teenagern lag die
Quote 2021 aber immer noch mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland.

Die britische Regierung beruft sich bei ihrem Vorgehen auf "Berichte über
beunruhigende Materialien", die im Unterricht genutzt worden seien. Ministerin
Keegan sagte dem Sender BBC Radio 4, sie habe Hinweise auf Unterrichtsmaterial
erhalten, in denen gelehrt werde, dass es zahlreiche verschiedene Geschlechter
gebe. Zugleich räumte Keegan ein, sie glaube nicht, dass dieses Thema weit
verbreitet sei.

Aktuelle Umfragen deuten auf eine verheerende Niederlage von Sunaks
Tory-Partei bei der Parlamentswahl hin, die noch dieses Jahr stattfinden soll.
Die Regierung nutzt Genderpolitik nach Ansicht von Kritikern verstärkt, um mit
Angriffen auf angebliche "woke" Ideologien bei konservativen Wählern um Stimmen
zu werben. "Schüler werden in ein hochsensibles Thema hineingezogen und als
Spielball für Schlagzeilen missbraucht, obwohl wir uns auf ihr Wohlergehen
konzentrieren sollten", kritisierte Pepe Di?Iasio, Generalsekretär des
Schulleiterverbands Association of School and College Leaders./bvi/DP/zb

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